Szene aus einer beliebigen TV-Krankenhausserie: OP-Saal. Nervös meldet die Anästhesistin, dass der Puls abfällt. Alle Blicke richten sich auf den Monitor, die Ausschläge werden geringer, dann die Nulllinie. „Weg vom Tisch!“ – Nichts passiert. Noch ein zweites Mal: „Weg vom Tisch!“ – und da ist sie plötzlich wieder: die Amplitude, die den Puls anzeigt. Die Operation kann fortgesetzt werden, das Herz nimmt den „systolischen Blutauswurf“ wieder auf, das Leben kann weiter gehen.
Was in Ärzte-Soaps so dramatisch inszeniert erscheint, was krankenhaustäglich ebenso routiniert wie lebensrettend ablaufen kann, berührt tatsächlich den Kern von Leben überhaupt: Leben und Puls gehören für alle Menschen zusammen. Ja, unsere individuelle Zeitlichkeit, unsere Eigenzeit, das Leben wird durch den Puls bemessen. Dieser wiederum ist abhängig von der je individuellen Verfasstheit; an seiner „Qualität“ ermessen sich (unter anderem) körperliche Gesundheit oder Gefährdungen. Der Puls ist das Jetzt in seiner Totale, er drückt unsere Befindlichkeit aus.
Am Puls der Zeit – diese etwas schräge Metapher – suggeriert, dass die jeweilige Gegenwart selbst einen Pulsschlag besitzt, der möglicherweise einem entsprechenden Zeitgeist entspricht. Einem? Sicherlich nicht! Der Puls der Zeit kann heute keineswegs als der eine Zustand, zum Beispiel der Gesellschaft, gesehen werden. Unser Leben pulsiert mehrschichtig, musikalisch gesprochen: gleichsam polyphon. Und doch signalisiert dieses Bild, dass, wenn sich Gruppen von Menschen in (annähernd) gleichen, gegenwärtigen Empfindungs- und Wahrnehmungshorizonten bewegen, „die Zeit“ pulsiert – unsere Welt also lebendig und damit veränderbar ist. Puls – Zeit – Gegenwart – Leben – Bewegung: Sie lassen sich nicht auftrennen, sondern sind eng und wechselseitig verwoben1.
Wenn das Motto des diesjährigen BMU-Bundeskongresses dieses Bild – Am Puls der Zeit – nun aufgreift, so müssen sich damit auch die ganz verschiedenen Bedeutungsrichtungen und das große inhaltliche Spektrum wiederfinden. In zwei Schritten werden hierzu im folgenden einige Gedanken entfaltet. Zunächst geht es im Reflex auf das Motto um allgemeine Bedeutungsmomente im bildungs- wie fachpolitischen Kontext. In einem zweiten Teil wird das Motto musikbezogen gespiegelt.
Online-Umfrage Inklusiver Musikunterricht
Bemisst man die schulbezogenen „Pulsschläge“ der Gegenwart, so zeichnen sich vor dem Hintergrund eines (keineswegs mehr unbefragten) integrativen Verständnisses gesellschaftlicher Praxis für die musikalische Bildungsarbeit durchaus besonders relevante Themenfelder ab. So lösen die durch Heterogenität, Inklusion und Integration erwachsenden Aufgabenstellungen heiße Diskussionen aus. Der Bundeskongress wird dem musikdidaktischen Umgang in diesen Zusammenhängen sowie der Sprachförderung im beziehungsweise durch Musikunterricht daher besondere Aufmerksamkeit widmen. Vor allem Inklusion ist im schulischen Umfeld in den letzten Jahren zu einer allgegenwärtigen Herausforderung geworden. Beim Thema „Inklusiver Musikunterricht“ sind die Ausschläge der „Pulsfrequenzen“ partiell extrem und sollten differenziert betrachtet werden. Mit großer Spannung wird daher auf dem BuKo 2018 die Ergebnispräsentation und Diskussion der vom BMU unterstützten bundesweiten Online-Umfrage der Arbeitsgruppe um Prof. Dr. H. Klingmann zum inklusiven Musikunterricht (AiM) an der Universität Paderborn erwartet. Auf einer breiten Basis der bundesweit erstmalig erhobenen diesbezüglichen Daten zu den persönlichen und individuellen Erfahrungen von Musiklehrer/-innen aus ihrer alltäglichen Arbeit können nach der Auswertung dann die Schienen für die zukünftigen inhaltlichen Entwicklungen gelegt werden, sowohl für die bildungspolitischen Aktivitäten als auch für die zukünftige Fortbildungsarbeit des Verbandes.
Für alle relevanten Themenfelder gilt, dass einerseits die Fachlichkeit und Nachhaltigkeit des schulischen Musikunterrichts gewährleistet sein muss, andererseits der Musikunterricht – ohne sich selbst zu begrenzen – als integraler Bestandteil eines Gesamtpaketes kultureller Bildung in Schulen verstanden werden muss. Dementsprechend stehen auch die konstruktiven Verbindungschancen zwischen schulischer und außerschulischer Arbeit sowie die Verknüpfung der beidseitigen Angebote im Blickpunkt des BMU-Kongresses.
„Pulsschläge“ der jungen Generation
Der BMU hat es sich zur Aufgabe gemacht, sehr genau auf die „Pulsschläge“ der jungen Generation zu achten; schließlich gelten die Herausforderungen der gegenwärtigen (und zukünftigen) schulischen beziehungsweise musikunterrichtlichen Praxis exponiert für alle angehenden Musiklehrer/-innen und für Berufseinsteiger/-innen. Deren Förderung widmet sich der BMU schwerpunktmäßig im Rahmen seiner Nachwuchsorganisation, dem „Jungen Forum Musikunterricht“ (JFM). In Hannover wird das JFM unter dem Motto „Musikunterricht zwischen akademischem Anspruch und Schulwirklichkeit“ mit Workshops, Diskussionsforen und selbstverständlich dem Erfolgsprojekt „Gelungene Unterrichtsstunden“ einen Akzent auf das Spannungsfeld zwischen der akademischen Ausbildung während des Studiums und der Schulpraxis im Referendariat beziehungsweise in den ersten Berufsjahren legen.
Bloß einem Trend hinterhergelaufen?
Das Motto Am Puls der Zeit signalisiert auch, zumindest implizit, sich nicht vorschnell, unbekümmert oder gar unüberlegt (im Nachhinein dann lediglich vermeintlich) brandaktuellen, hochmodernen Trends, gleichsam im vorauseilenden Gehorsam, anzupassen. Lediglich hinter den sich permanent beschleunigenden gesellschaftlichen Entwicklungen her zu laufen, ist auf Dauer vielfach gerade keine nachhaltige Lösung. Die von H. Rosa gezeichnete Gesellschaftsdiagnose, dass die „Temporalstrukturen der Moderne ... vor allem im Zeichen der Beschleunigung“ stehen2, kann im Horizont des Kongressmottos schlicht umformuliert werden: Die Pulsschläge unserer Zeit werden immer schneller, sie geraten womöglich ins Rasen. Geht man noch einen Schritt weiter – dazu sei nochmals die Soziologensprache Rosas zitiert – so wirft allein „die fortwährende Beschleunigung auch nur eines sozialen Teilsystems aufgrund der zeitstrukturellen Kopplung sozialer Teilsysteme und dem daraus resultierenden Synchronisationsbedarf temporale Folgeprobleme für alle übrigen Systeme – und die in ihnen agierenden Akteure“ auf3. Genau so lassen sich die Folgen der Schulzeitverkürzung in ihren Auswirkungen auf musikalische Bildung (aber auch auf Sport, Kirchen, Parteien etcetera.) erklären. Um so erfreulicher ist es, wenn sich aufgrund einer entsprechenden Fehlerdiagnose neue Einsichten durchsetzen und Politiker den Mut haben, diese deutlich zu artikulieren. So sprach die schleswig-holsteinische Schulministerin Karin Prien im Zuge der Rückkehr der Schulen von G8 zu G9 von einem „guten Tag für zukünftige Gymnasiastinnen und Gymnasiasten“. Sie führte weiter aus: „Es war ein guter Tag, weil die Schülerinnen und Schüler in Schleswig-Holstein in Zukunft mehr Zeit für Persönlichkeitsentwicklung, für die Vertiefung des Lernstoffes, aber auch für außerschulisches Engagement und für Musik und Sport haben werden. … G8 war ein bildungspolitischer Fehler. Den haben wir nun korrigiert“4.
Die eingeforderte Sorgfalt hinsichtlich möglicher Reaktionen auf den Pulsschlag unserer Zeit erscheint sicherlich auch beim Thema Digitalisierung in der Schule angebracht. Dieser Themenbereich wird im Rahmen des BuKo in verschiedenen Facetten thematisiert und diskutiert. Die Kultusministerkonferenz hat in ihrem Strategiepapier5 eine durchaus klare Orientierungslinie gezogen: Für eine „aktive, selbstbestimmte Teilhabe“ in unserer digitalen Welt der Gegenwart und der Zukunft ist nicht ein einzelnes Fach zuständig. Vielmehr ergeht der Auftrag an alle Fächer, über ihre „Sach- und Handlungszugänge“, spezifische Beiträge zu den Kompetenzen in der digitalen Welt zu leisten. Genau diese Aufgabenstellung ist für das Unterrichtsfach Musik wohl überlegt auszutarieren. Hier sind wichtige Fragen zu klären und Perspektiven aufzuzeigen; zum Beispiel: Wie verbinden sich die relevanten Dimensionen musikalischer Kompetenz (wie zum Beispiel Singen, Bewegen, Instrumente spielen, Hören und Beschreiben) mit den Ansprüchen der Digitalisierung? Welche Chancen bietet die Digitalisierung für selbstgesteuertes musikalisches Lernen? Wie und mit welchen Mitteln können sie im Musikunterricht der Schule produktiv umgesetzt werden?
Ausdruck des Menschseins: Der Pulsschlag der Musik
Interpretiert man das Motto aus der oben angesprochenen zweiten Perspektive, also musikimmanent, so geraten ebenfalls ganz grundlegende Aspekte in den künstlerischen, pädagogischen und wissenschaftlichen Blick. Musikalische Pulsationen korrespondieren gleichsam dem Herzschlag und sind dem entsprechend existentiell für musikalisches Leben. Ja noch mehr, der Puls im menschlichen Körper wandelt diesen zugleich in einen „musikalischen Körper“6. Er ist der Urgrund von Metrum, Takt, Rhythmus, Groove, Bewegung und (in der Summe) von musikalischer Zeit. Vom menschlichen Ur-Phänomen des Pulsschlages abgeleitet rekurriert Musik auf ihren „Grundschlag“ und erscheint damit zugleich als Ausdruck des Menschseins und der Menschlichkeit. In diesem Sinne und abstrahiert gesprochen erscheinen musikalische Entwicklungen in der Geschichte als schier unendliche Ausformungen, Prägungen, Gliederungen oder kreative Gestaltungen des Grundmusters einer pulsierenden Bewegung.
Das Stichwort „Puls“ in seinem körperlichen Kontext erweist sich als gleichsam ideale Brücke, um in den Bereich der musikalischen Gestaltungsarbeit einzusteigen. Im Kontakt mit dem eigenen Körper, auf die individuellen Puls- beziehungsweise Herzschläge achtend sowie den Atem einbeziehend, entwickelt zum Beispiel W. Rüdiger äußerst spannenden Improvisations- und Musizierprozesse. Sein Modell „Puls und Atem – vokal und instrumental“ bietet elementare Zugänge zu musikalischen Entwicklungen und weist Wege zu spannenden Stücken „improvisierter Körpermusik mit kontinuierlichen Klangverwandlungen“7.
Musik und pulsierendes Leben
Puls als körpermusikalisches Momentum umgreift wohl alle Ausprägungen von Musik: Rap ebenso wie Barockmusik, romantische Klavierlieder und klassische Sinfonik, Techno oder Jazz, Schlager und populäre Musik. So kann die Musikalisierung des Pulses beziehungsweise des Herzschlages in vielen Opernszenen entsprechend der jeweiligen Befindlichkeit der Protagonisten gehört und (nach-)erlebt werden8. In der populären Musik ist das In-Eins von Rhythmus, Groove und Körperlichkeit fundamental und Ausdruck des jeweils aktuellen Pulsschlags der Zeit. Auf der symbolisch-metaphorischen Ebene öffnen sich zahlreiche Bezüge, über das Ticken von Uhren, das Schlagen von Glocken zum Lauf der Zeit oder der Welt9, zur Zeitlosigkeit, zur Ewigkeit oder auch zur Dualität von unerbittlicher Taktung und freiem Zeitverlauf, zur Spannung der Synkopierung oder zur Irregularität, zur „Brechung“ der Zeit durch Pausen oder Breaks.
In diesem Zusammenhang ist der Eindruck einer musikhistorisch wichtigen Pulskomposition wohl unauslöschlich: Ein Puls-Spieler gibt – wie ein akustischer Dirigent – den Grundschlag sehr laut und unnachgiebig vor: auf dem höchsten Klavier-C im Tempo Viertel = ca. 120. Die anderen 10 Spieler musizieren, kanonisch einsetzend und in unterschiedlich langen Pausen unterbrochen insgesamt 53 Modelle in variablen Wiederholungsphasen. Es entsteht eine schier unbegrenzte, in sich pulsierende Klangfläche: „Stets ist zu hören, was geschieht und wie es geschieht. Musik ist primär gequantelte Zeit, ihr Puls ist hörbar der gleichmäßig lebendige des pulsierenden Lebens“10. Mit Terry Rileys Erstfassung seiner Komposition „In C“ (1964) öffnet sich der Kosmos zahlreicher Werke der sogenannten periodischen Musik beziehungsweise der minimal music – eine schier unendliche Fülle für die unterrichtliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen pulsierender Musiken11.
Anmerkungen
1 Im politisch-gesellschaftlichen Kontext artikulieren sich diese Interdependenzen zunehmend auch in konkreten Bewegungen wie bspw. der 2016 gegründeten Initiative „Pulse of Europe“, die den europäischen Gedanken wieder stärken möchte.
2 Vgl. H. Rosa: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, München 112016, S. 15
3 Vgl. ebd. S. 47
4 Vgl. Interview mit Ministerin Prien, taz vom 27.10.2017
5 Vgl. Strategie der Kultusministerkonferenz „Bildung in der digitalen Welt“, Beschluss der KMK vom 8.12.2016 in der Fassung vom 7.12.2017
6 Vgl. hierzu W. Rüdiger: Der musikalische Körper, Mainz 2007
7 Vgl. W. Rüdiger: Ensemble & Improvisation. 20 Musiziervorschläge für Laien und Profis von Jung bis Alt, Regensburg 2015, S. 27ff.
8 Vgl. z.B. das Schlussduett von Giovanni Battista Pergolesis Opernintermezzo La serva padrona (Serpina: Ich fühl´ in meinem Herzen / Der Liebe süße Schmerzen; / Ein kleines Hämmerlein, / Das pocht so flink und fein / ... / O fühle nur so zart, / Fühle: Tippiti, tippiti, tippiti!), Mozarts Bildnisarie aus der Zauberflöte oder das Duett Guglielmo – Dorabella (Nr 23) aus Cosi fan tutti.
9 Vgl. hierzu beispielsweise das Vorspiel von M. Ravels einaktiger Oper „L`heure espagnole“ (1911)
10 W. Hufschmidt: Musik als Wiederholung. Anmerkungen zur Periodischen Musik, in: Reflexionen über Musik heute. Texte und Analysen, hg. von W. Gruhn, Mainz 1981, S. 148 - 168, hier S. 160
11 Die Bezüge sind hierbei bereits vielfach durch die entsprechende Übernahme von Titeln bzw. Satzbezeichnungen vorgegeben, vgl. u.v.a. Steve Reich: Abschnitt 1 (Pulses) und 14 (Section Pulses) aus Music for 18 Musicans (1974-76) und Pulses (2015) für Bläser, Streicher, Klavier und Elektrobass