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Big Band des Beethoven-Gymnasiums (Ltg. Carl Parma) auf dem Flughafen Tempelhof 2019. Foto: Carl Parma
Big Band des Beethoven-Gymnasiums (Ltg. Carl Parma) auf dem Flughafen Tempelhof 2019. Foto: Carl Parma
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Krise der Schulensembles in Pandemie-Zeiten

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Ein Bericht zur BMU-Umfrage von Carl Parma
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Ausgerechnet im 100. Jubiläumsjahr von Leo Kestenbergs Schrift „Musikerziehung und Musikpflege“ steckt die schulische Ensembletätigkeit pandemiebedingt in einer ihrer größten Krisen. In Kestenbergs visionärem Gesamtkonzept musikalischer Bildung kam der musikalischen Eigentätigkeit im Ensemble eine besondere Bedeutung zu, eröffnete sich doch hier die Möglichkeit, jenseits des bis dahin als Singe-Unterricht praktizierten Faches Musik auch künstlerisch anspruchsvoll in Chor, Orchester und Instrumentalgruppen zu arbeiten und so die Schülerinnen und Schüler lebenslang für die Musik zu gewinnen.

Diese Facette der Schulmusik hatte gerade in den letzten 20 Jahren – nach einer Abkehr von der neomusischen Ausrichtung bis in die 1960er-Jahre – zu prosperieren begonnen und eine bis dahin unbekannte Vielfalt und Qualität der Ensemblearbeit hervorgebracht. Durch die Betonung – für manchen Kritiker Überbetonung – musikpraktischer Tätigkeit im Unterricht vom Klassenmusizieren bis zu reinen Instrumental- und Vokalklassen nach dem Vorbild von JEKI und PRIMACANTA entwickelte sich auch eine immer differenziertere Ensemblelandschaft: Bläser- und Streicher­ensembles, Percussion- und Bandgruppen, Orchester, vielfältige Vokalformationen, Bigbands und Musicalgruppen. Innerschulisch trug das wesentlich zu einer verstärkten Wahrnehmung des Musikbereichs bei, außerschulisch bereicherte es vielerorts die kulturellen Angebote einer Region, gerade im ländlichen Raum. Möglich geworden war dies nicht zuletzt durch eine vermehrte Kooperation schulischer und musikschulischer Akteure.

Mit dem Lockdown im März 2020 fand diese Entwicklung ein jähes Ende, deren Folgen auch noch anderthalb Jahre danach spürbar sind. So konnten ausweislich einer kürzlich gestarteten BMU-Umfrage gerade einmal 35 Prozent der Befragten ihre Ensembles reaktivieren, 40 Prozent hingegen konnten nur mit einem Teil weitermachen, 18 Prozent gar mussten gänzlich neu beginnen. Ein knappes Drittel war auf das Proben im Freien angewiesen, was selbst an wärmeren Tagen aus akustischen und Konzentrationsgründen keine wirkliche Alternative darstellt. Auch Onlineproben konnten wegen der Latenz hier keine nennenswerte Abhilfe schaffen.

Zudem machte die Perspektivlosigkeit sowohl bei der Konzert- wie der Fahrtenplanung den Ensembles schwer zu schaffen: Obwohl immerhin 40 Prozent der Befragten auf ein Konzert hinarbeiten, 20 Prozent sogar eine Probenfahrt planen, halten 36 Prozent solche Planungen in naher Zukunft für unrealistisch. Erschwerend kommt hinzu, dass in der Post-Corona-Phase eine andere Priorisierung vorgenommen wird, für die die Aussage des Bildungsforschers Prof. Köller zu Beginn des Jahres emblematisch ist: „Und dann muss man in dieser besonderen Zeit auch mal die Kröte schlucken, dass man auf einzelne Fächer verzichtet.“ Musik gehörte selbstredend dazu.

In dieser Gemengelage drohen neuere Erkenntnisse bezüglich der Ansteckungswege und ihrer Vermeidung ganz in den Hintergrund zu rücken: Angesichts niedriger Inzidenzen und einer hohen Impfrate dicht an der „Durchseuchungsmarke“ sowie der Ausrüs­tung zahlreicher Schulen mit mobilen Lüftungsgeräten, sind die Bedingungen für einen Neustart der Ensembletätigkeit denkbar günstig. Die Professoren Christian Kähler (München) und Dirk Mürbe (Berlin) halten 10-minütiges Singen selbst in Klassenräumen für vertretbar, reduzierte Abstände und höhere Teilnehmerzahlen bei Proben mithilfe mobiler Lüftungsgeräte für realistisch. Auch böten Shields, Plexiglaswände und versetzte Aufstellungen nicht nur zusätzlichen Schutz, sondern ermöglichten auch das Proben von Chören und Orchestern sowie Bigbands mit Bläsern. Die von Prof. Kähler betreuten Bundeswehrmusikcorps hätten dadurch ihre Auftrittstätigkeit in vollem Umfang wieder aufnehmen können. Diese Erkenntnisse haben sich langsam auch in den Kultusbehörden der Länder herumgesprochen, so dass beispielsweise in Berlin dank novellierter Hygieneverordnungen nach den Herbstferien 2021 wieder „normalere“ Proben möglich werden sollten. 

Unter Einbeziehung neuerer wissenschaftlicher Erkenntnisse und der reichen Erfahrung im Amateur- und Profimusikbereich sowie durch die Nutzung technischer Möglichkeiten und einer nahezu 85-prozentigen Impfquote des pädagogischen Personals und ständiger Testung der Schülerschaft bei rückläufiger Inzidenz sollte so eine gute Basis für eine allmähliche Normalisierung gegeben sein. Wir sollten sie als Aufbruchssignal für den Wiedereinstieg nutzen und der arg gebeutelten Schülerschaft auch wieder einmal einen Hoffnungsschimmer anbieten, sind doch die psycho-sozialen Folgen der Pandemie in den jüngeren Alterskohorten besonders gravierend.

Und gerade die musikalische Arbeit ist doch – wie es ein Schulleiter kürzlich formulierte – immer auch ein Stück „Beziehungsarbeit“. Insofern sollten wir wenigstens mit dem ausgehenden Kestenberg’schen Jubiläumsjahr Licht am Ende des Tunnels gefunden haben.

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