Musik kann uns zu intensiven und tiefgreifenden Erfahrungen verhelfen, sie kann sowohl die Sicht auf die Welt als auch unsere Selbstwahrnehmung verändern. Musik vermag es auch, das Leid kurzfristig zu verdrängen: Im gemeinsamen Musizieren können wir uns nicht nur mit der Welt, die uns umgibt, auseinandersetzen, In Musik wird Wahrheit erschaut – und gleichzeitig schenkt sie die Möglichkeit, uns zumindest kurzfristig über die Missgeschicke der Welt zu erheben.
Mit Musik den Text der Welt aufnehmen
All dies durften Kinder und Jugendliche erleben, die im Gedenken an die Opfer des rassistischen Anschlags vom 19. Februar 2020 in Hanau am Schulwettbewerb „Ohren auf für Hanau“ teilgenommen haben. In ihren eigenen Gestaltungsprozessen haben sie ihren Empfindungen Ausdruck verliehen, sich mit der tiefgreifenden Verbindung zwischen Musik und menschlicher Erfahrungen auseinandergesetzt, um dabei erleben zu dürfen, wie Musik in all unsere Lebensvollzüge eindringt und die Sicht auf die Welt um uns herum verändern kann. Solch eine kreative musikalische Gestaltungsarbeit lieferte dann en passant noch einen wichtigen Beitrag zur Demokratiebildung.
Vom Ich zum Du
Denn wenn man sich in der Gruppe mit kompositorischen Fragen auseinandersetzt, kommt man mit einer Haltung, die wie Descartes das eigene Ich in den Mittelpunkt stellt, nicht weit: Wer mit seinem „Ich denke, also bin ich“ seine eine eigene Idee vorstellt und erproben möchte, wird sich schwertun, die Perspektive des anderen als Bereicherung zu empfinden. Bereit bleiben für Veränderungen und die Wahrnehmungen der anderen, die Gemeinsamkeiten in Widersprechungen aufspüren, mit Martin Buber „vom Ich zum Du“ finden, ohne das eigene Ich zu verlieren. All diese wichtigen Prozesse lassen sich in den Einsendungen zu Ohren auf für Hanau ablesen und nachvollziehen. Dass dabei dann kein mühsamer Koalitionsvertrag, sondern Kunst entsteht, liegt in genau jenem Zauber, der einer Musik innewohnt: Nur sie vermag es, den Text der Welt mit den Melodien der verschiedenen Perspektiven ihrer Betrachter zu verbinden.
Damit stellt sich dieses Projekt gegen eine Haltung, die wir allzu oft erleben: Musik an, Welt aus. So heißt es nämlich, wenn wir uns ganz der Musik ergeben und mit In-Ear-Kopfhörern Abwesenheit zeigen, den Alltag im Konzertsaal durch Transzendenzerfahrungen abschalten, die Musik in der Schule als Pausenfüller zwischen Englisch und Mathematik erleben, im günstigsten Fall noch anleitenden Weisungen folgen, die uns eine vermittelte Teilhabe am Partiturerlebnis gestatten.
Gerade Jugendliche, die bereits „Generation Krise“ getauft werden, spüren, wie unsere Welt aus den Fugen gerät, es an Orientierungen fehlt oder voreilige Gewissheiten prophetiert werden. Häufig leben ihnen Erwachsene ein missmutiges Klammern am Bestehenden vor, dass sich mit manischem Reformeifer abwechselt. In der Schule haben junge Menschen bereits zu oft erfahren, wenn ein überforderndes Zuviel in Erstarrung endet. Sie wissen bereits sehr genau, dass es auf Dauer nicht trägt, auf Krisen mit Teilnahmslosigkeit oder Weltflucht zu reagieren: „Die Musik überhaupt ist die Melodie, zu der die Welt der Text ist“. So formuliert es Arthur Schopenhauer in Parerga und Paralipomena (Bd. 2, §219) und ruft auch heute noch Jung und Alt dazu auf, in der Musik und im Musizieren den Text der Welt aufzunehmen, um Musik in ihr Leben und ihr Leben in Musik zu verorten!
Schüler komponieren
Diesem Ruf sind nun viele Schülerinnen und Schüler gefolgt, indem sie sich mit den Themenbereichen Rassismus, Antisemitismus, Rechtsextremismus und anderen Formen der Ausgrenzung auseinandergesetzt haben. In ihren kompositorischen Gestaltungsarbeiten wird für sie und für alle Hörerinnen und Hörer erlebbar, dass wir in der Musik immer neue Anfänge machen können und dass es mit jedem Blick zurück auch eine gesellschaftliche Bewegung nach vorn geben kann. Dabei kann die Musik das Leiden der Welt nicht heilen, wie alle Menschen, die täglich Terror und Gewalt zu erleiden haben, werden auch die Angehörigen der Opfer von Hanau ihren Schmerz zeitlebens nicht los. Musik, die den Text der Welt aufnimmt, kann aber dazu beitragen, sich gegen eine unter uns allen grassierende Sprachlosigkeit zu stellen, in die wir uns hineinziehen lassen: Die entstandenen Songs, Rap- und Klangcollagen sowie experimentellen Musizierformen zeigen, wie verschieden wir alle im Ausleben unserer Ängste, Sorgen und Nöte sind und gerade in dieser Mannigfaltigkeit unserer musikalischen Sprachen neue Möglichkeiten der Begegnung und Verständigung schaffen.
Frieden stiftende Botschaft
In der dritten Szene von Viktor Ullmanns Oper „Der Kaiser von Atlantis“ sind es zwei Soldaten, die sich im Nahkampf gegenüberstehen und sich ineinander verlieben, als der eine sich im Kampf als Mädchen entpuppte und kein Trommler sie zur Fortsetzung ihres Kampfes bewegen konnte. Entstanden ist die Musik in Theresienstadt, sie wurde aus dem Lager geschmuggelt, bevor ihr Komponist nach Auschwitz deportiert wurde. In einer Sphäre des Schreckens ist ein Text der Welt in eine Melodie gesetzt worden, die bis in unsere Zeit nicht den nötigen Widerhall fand. Dabei ist es gerade der Musik gegeben, eine friedensstiftende Botschaft zu senden, um alle Menschen auf der Welt zu erreichen, die sich an ähnlicher Stelle gegenüberstehen, weil man sich Brüder eben nicht aussuchen kann oder verschiedene Religionen sich untereinander bekämpfen, die beide einst aus dem Schoße Abrahams hervorgegangen sind.
In der Schule können solche Botschaften alle erreichen, darum muss der Musikunterricht hier ein klares Signal setzen den einen Anfang zu machen. Auch wenn wir hier nur an der Schwelle stehen, weil uns mit Blick auf die durch Krieg und Gewalt ausgelösten humanitären Katastrophen nur ein kleiner Hoffnungsschimmer bleiben kann, darf es uns nicht entmutigen, dafür zu kämpfen, dass auch in Zukunft allen Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit geschaffen wird, Musik auf diese besondere Weise zu erleben: Wir brauchen die Musik, um uns mit dem Text der Welt auseinanderzusetzen, wir müssen den Text der Welt mit einer Melodie versehen, wir brauchen die Musik, um in der Welt unseren eigenen Standpunkt zu finden.
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