Mit seiner programmatischen Schrift Musikerziehung und Musikpflege (1921) leitete Leo Kestenberg eine fundamentale Neubestimmung des Musikunterrichts ein, die unser Fach- und Professionsverständnis bis heute entscheidend geprägt hat und „die am authentischsten seine eigene musikpädagogische und musikpolitische Haltung widerspiegelt“ (Wilfried Gruhn).
Erstmals wurde hier ein Gesamtkonzept einer musikalischen Bildung vom Kindergarten bis zur Universität, von Formen der volkstümlichen bis hin zur professionellen Musikpflege vorgelegt. Zentral war ihm dabei die Vermittlung von pädagogischen Ansprüchen („Pädagogik vom Kinde aus“) mit den Ansprüchen eines künstlerischen Musikverständnisses und einem umfassenden Kulturbegriff. Der ausgebildete Pianist und gefeierte Liszt-Interpret spürte wie Franz Liszt eine soziale Mission. Kestenberg, der sich in seinen Lebenserinnerungen selbst als „glühenden Sozialisten“ bezeichnete, verstand Kulturvermittlung und damit auch sein eigenes künstlerisches Wirken immer auch als eminent politische Aufgabe. Getreu dem Credo der Berliner Volksbühne „Die Kunst dem Volke“ veranstaltete er Arbeiterkonzerte, u.a. einen Beethoven-Zyklus mit keinem geringeren als Arthur Schnabel am Klavier.
Um politisch wirksam zu sein, wuchs Leo Kestenberg so immer mehr in die Rolle eines Bildungspolitikers, der das Berliner Musikleben nachhaltig prägen sollte. Erfolgreich konnten diese visionären Züge seines Wirkens aber vor allem auch deshalb werden, weil er ein geschickter Politiker und glänzender Verwaltungsfachmann war, der mit den Größen seiner Zeit im ständigen Austausch stand und es verstand, seine vom eigenen Qualitätsbewusstsein geprägten Ideen zu einem künstlerisch, pädagogisch und wissenschaftlich verstandenen Musikunterricht in Erlasse und Richtlinien zu gießen: Aus dem Singe-Unterricht von einst wurde so das Unterrichtsfach Musik als ebenbürtiges Schulfach etabliert, was notwendigerweise mit einer Professionalisierung der Ausbildungsstrukturen und ihrer institutionellen Verankerung verbunden war. All dies gelang Kestenberg in einem Zeitfenster von weniger als zehn Jahren, obwohl er sich hier gegen erhebliche Widerstände und gegen persönliche Angriffe durchsetzen musste. Sein Wirken endete abrupt 1933: Es erfolgte die erzwungene Emigration und ein Neuanfang zunächst in Prag, dann in Tel Aviv, wo seine Ideen auf einen ebenso fruchtbaren Boden fallen sollten. Verdorrt hingegen war die kulturelle Landschaft seiner alten Heimat, in die er noch einmal kurz zurückkommen sollte. Friedrich Blume, selbst geprägt von den Infiltrierungen des Nationalsozialismus, sollte Kestenberg noch 1951 für den „katastrophalen Verfall der Schulmusikerziehung“ verantwortlich machen und dabei verkennen, welche Furchen ein totalitäres Regime hier hinterlassen hatte. 100 Jahre sind nun nach Kestenbergs Schrift Musikerziehung und Musikpflege vergangen und aus diesem Anlass möchte der Bundesverband Musikunterricht (BMU) sein umfassendes Bildungskonzept einer kritischen Würdigung im Lichte der gegenwärtigen gesellschafts- und bildungspolitischen Verhältnisse unterziehen. In seinen Lebenserinnerungen „Bewegte Zeiten“ (1961) setzt uns Kestenberg auf die optimistische Spur, dass sich eine Neuauflage seiner inzwischen vergriffenen Schrift erübrige, da alle Erlasse umgesetzt und damit auch seine Ziele erreicht seien. Doch gerade mit Blick auf die gegenwärtige Situation des heutigen Musikunterrichts mit all den auszuhaltenden Erosionserscheinungen wird deutlich, dass nicht nur an der Statik eines schlüssigen Gesamtkonzepts musikalischer Bildung weiterhin gearbeitet werden muss, sondern hier auch eine Auseinandersetzung mit den vorfindlichen Unterrichtswirklichkeiten notwendig erscheint.
Im Rahmen einer zweitägigen Arbeitstagung in Potsdam sollen die Kestenberg’schen Gedanken vor dem Hintergrund der aktuellen kultur- und bildungspolitischen Entwicklungen kritisch hinterfragt werden: Wie tragfähig ist ein Gesamtkonzept musikalischer Bildung heute? Wie ist es um die Idee einer „überfachlichen“ Ausrichtung des Musikunterrichts bestellt? Wie lassen sich die Potenziale des Künstlerischen im Musikunterricht in den verschiedenen Handlungsfeldern verwirklichen? Welchen Anforderungen sollte eine professionelle Aus- und Weiterbildung heute genügen? Wie lassen sich Kestenbergs Forderungen eines Musikunterrichts für alle vor dem Hintergrund von Inklusion und Migration neu denken? Kann Schule als künstlerischer Lern- und Lebensraum all diesen fachlichen Ansprüchen gerecht werden, sinnliche und soziale Erfahrungen mit einander verbinden?
Ein Höhepunkt der Tagung wird die Verleihung der Leo-Kestenberg-Medaille an den von Daniel Barenboim gegründeten Musikkindergarten Berlin sein, in dem die Ideen Kestenbergs für die frühkindliche Musikerziehung seit fast 20 Jahren aktiv gelebt und umgesetzt werden. Die rahmenden Festvorträge von Wilfried Gruhn (Herausgeber der Kestenberg-Gesamtausgabe) und Friedhelm Brusniak (Vorsitzender der Internationalen Leo-Kestenberg-Gesellschaft) werden der Bedeutung Kestenbergs für das damalige und heutige Musikleben nachgehen.
Mit dieser Tagung möchte der Bundesverband Musikunterricht nicht nur die Leistungen Kestenbergs an den gegenwärtigen Referenzpunkten aufzeigen. Kestenbergs Ruf nach musikalischer Bildung als eine „Staats- und Lebensnotwendigkeit“ verhallt immer mehr in einem Schulsystem, das sich ausschließlich in die Zwänge einer persönlichen Selbstoptimierung begibt und sich Fragen der ökonomischen Verwertbarkeit des eigenen Tuns stellt oder stellen muss. Der BMU sieht es daher als eine Notwendigkeit an, mit seinem fachpolitischen Engagement an Kestenbergs Erbe zu erinnern, um den von ihm eingeschlagenen Weg in auch heute „bewegten Zeiten“ fortzusetzen. Im Sinne aller Lehrerinnen und Lehrer und den ihn anvertrauten jungen Menschen gilt es, an den Weckruf von Bernhard Wallerius auf einem Kestenberg-Symposium 1986 zu erinnern: „Es ist an der Zeit, die Kestenbergreform fortzusetzen. Sie ist noch nicht zu Ende.“