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Resonanzphänomen in optimistischer Variante

Untertitel
5. Bundeskongress Musikunterricht vom 28. September bis 2. Oktober in Mannheim
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Als ein kleines Mädchen namens Amelia inmitten des Krieges in einem Schutzbunker sang, ging das Handyvideo um die Welt. „Ich spüre diese Kraft, sie ist ein Teil von mir. Sie fließt in meiner Seele und in all die Schönheit hier“, heißt es in dem Lied, das sie singt. Der Text, der für einen kleinen Lichtblick inmitten grauenvoller Bilder sorgte, könnte treffender kaum sein: „Die Kraft, sie ist grenzenlos“, singt eine zarte und doch zugleich resolute Stimme. Beschworen wird ein Vermögen der Musik, das bereits Dietrich Bonhoeffer getragen hat, als er Beet­hovens Klaviersonaten innerlich hörte, auch wenn es keinen Weg aus der für ihn ausweglosen Situation mehr geben sollte. Die Kraft der Musik ist eben nicht grenzenlos, sie macht auch nicht alle Menschen zu Brüdern und Schwes­tern, Bettler werden auch keine Fürs­tenbrüder, wo ihr sanfter Flügel weilt. Genauso wenig können der Erzengel Michael und der Apostel Andreas als Schutzpatrone einer Stadt ausrichten, wenn das Handeln einzig im Zeichen menschlichen Terrors steht.

Dass mitten in Europa, in Kiew, der Partnerstadt von Berlin, Leipzig und München, die Kraft der Musik in einer solch exis­tentiellen Situation besungen werden sollte, war im Dezember 2018, als sich das Vorbereitungsteam für den 5. Bundeskongress Musikunterricht zum ers­ten Mal in Mannheim traf, nicht vorauszusehen und schien undenkbar. Blickt man heute auf die ersten Überlegungen zum Kongressthema Resonanz, so wirken diese heute wie ein Ruf aus einer anderen Zeit: Ein bildungspolitisches Signal gegen den ausfallenden Musikunterricht sollte gesetzt werden, das von politischen Mandatsträgern in ihrer Sonntagskleidung und den üblichen Betroffenheitsritualen stets mitgetragen wird, in Alltagsentscheidungen aber wenig sichtbar bleibt, wenn sich die Musik jenen ökonomischen Wirksamkeitsmechanismen zu stellen hat, die nicht nur an den Rändern des Musikunterrichts kratzen. Resonanz sollte nicht nur als musikalisches Phänomen erlebt, sondern in den verschiedensten Facetten der Resonanztheorie Hartmut Rosas beleuchtet, theoretisch reflektiert und hinterfragt werden. Es sollte darum gehen, die Musik als anthropologische Grundkonstante zu beschwören, und der Kongress sollte auch im bildungspolitischen Diskurs insgesamt eine Resonanz entfalten, und sich dem immer wieder verkürzten Bildungsbegriff entgegenstellen.

Gleiches Thema, gleicher Ort?

In die Planungen hinein brach dann zunächst ein Virus, das uns mit Lebenswirklichkeiten konfrontierte, die wir bisher nicht für möglich halten wollten. Unser Leben wurde gänzlich stillgelegt, die musikalische Arbeit an Schulen und den Kulturbereich insgesamt sollten die Auswirkungen dieses Virus besonders hart treffen. Die Arbeit an epidemiologischen Steckbriefen stellte sich dabei manchmal auch vor die Sache, es blieben mehr Fragen als Antworten, von Vorerkrankungen und Schwächen des Systems war schnell die Rede und bis heute hat sich die musikalische Arbeit an den Schulen nicht von diesen Einschlägen erholen können. So kann die Ensemblearbeit, oft über Jahrzehnte aufgebaut und an allen Schulen ein wesentlicher Bestandteil der Schulkultur, bis heute nicht revitalisiert werden. Ein „Neustart Kultur“ müsse also her, als ließe sich mit dem Reset-Knopf finanziell konturierter Aufholprogramme hier ein Zurück in das alte Leben ermöglichen. „Gleiches Thema, gleicher Ort“, so lautete 2020 noch die mutmachende Devise des BMU, als der Kongress in das Jahr 2022 verschoben werden musste und noch nicht absehbar war, dass der gleiche Ort inzwischen ein anderer geworden sein würde. Im Sound of silence war nicht nur die Zerbrechlichkeit des musikalischen Lebens an den Schulen hörbar, in der vernehmbaren Stille lag zugleich auch eine Intensivierung, ein Hunger nach Musik, eine Sehnsucht nach Resonanz­erfahrungen, wie bescheiden sie auch immer ausfallen mochten. Dabei war damals auch noch nicht abzusehen, wie sich ein Jahr später neue Bilder in unsere Köpfe einbrennen sollten: gebrochene Dämme, Sturzbäche, bis zur Erschöpfung kämpfende Helfer, verzweifelte Menschen. Die Flutkatastrophe im Ahrtal verdeutlichte uns, wie brüchig unsere Existenz, wie zerbrechlich unser Leben, wie zerbrechlich unser Planet insgesamt ist. Die Resonanz auf die großangelegte Spendenaktion des BMU war mehr als eine Solidaritätsbekundung, sie zeigte, dass uns solche Momente auch näher zusammenführen.

Inzwischen ist mitten in Europa ein Krieg entbrannt, der uns auf erschreckende Weise zu einem Kerngedanken von Rosas Resonanztheorie führt: „Resonanz bleibt das Versprechen der Moderne, Entfremdung ist ihre Realität“ (Rosa 2016, S. 624). Unter dem Titel „The Power of Music“ wurde am 15. März der von der European Association for Music in Schools (EAS) initiierte 1. European Day of Music in School begangen, der Song „Together“ wurde zu einem Ausdruck der Solidarität und einem einmaligen Resonanzerlebnis, das Kinder und Jugendliche in ganz Europa singend zusammenführte, während wir gleichzeitig ein anderes Resonanzversprechen in Form einer „Resonanzkatastrophe“ erleben müssen, ein „Streben nach Weltreichweitenvergrößerung“ als „stummen Modus der Weltbeziehung“ (ebd.), das Resonanz ins Gegenteil verkehrt.

Was kann Musik leisten?

Umso wichtiger wird es sein, auf dem Bundeskongress in Mannheim diese Fragen nach zukunftsorientierten und wegweisenden Resonanzverhältnissen zu stellen: Die Fragen nach Radikalisierungen eines entfremdeten Selbst- und Weltverhältnisses, die Fragen danach, welchen Beitrag die Kunst und ganz besonders die Musik hier leis­ten kann und mit Blick auf den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalt vielleicht auch leisten muss. Eine Instrumentalisierung des Musikunterrichts wird hier genauso wenig beitragen wie ein eskapistisch anmutender, aber immer noch gern transportierter L'art pour l'art-Gedanke. Die Kraft der Musik ist nicht grenzenlos, aber Musik kann Grenzen öffnen, sie sorgt für Balanceverschiebungen und es liegt in unserer Verantwortung, dass wir uns dessen bewusst werden und uns diesen Möglichkeiten stellen. Auf dem 5. Bundeskongress Musikunterricht tun wir dies nicht nur um der Kunst willen, sondern weil wir der festen Überzeugung sind, dass wir uns dem Resonanzphänomen auch in seiner optimistischen Variante zuwenden können und die Kraft, die Energie, die Gewalt, die „Power of music“ gemeinsam erleben dürfen.     

Literatur: Hartmut Rosa: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin 2016: Suhrkamp.

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