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Schule braucht Veränderung!

Untertitel
Zur Situation des Musikunterrichts an Grundschulen im aktuellen bildungspolitischen Diskurs
Vorspann / Teaser

„Ich kann freilich nicht sagen, ob es besser wird, wenn es anders wird; aber so viel kann ich sagen: es muss anders werden, wenn es gut werden soll.“ Dieses Zitat stammt von Georg Christoph Lichtenberg, Physiker und Altmeister des Aphorismus, und beschreibt, was unter einer Veränderung zu verstehen ist. Sie ist verbunden mit dem Verlassen der gewohnten Komfortzone, sie verursacht Unsicherheiten, öffnet sich unbekanntem Terrain, oft mit unbekanntem Ausgang. Dabei gibt es Barrieren, die sich solch einer Veränderung entgegenstellen, die verhindern, dass ein Prozess erst mal ins Rollen kommt, damit wir einen als belastend empfundenen Zustand verlassen und einen erstrebenswerten erreichen können. Schule braucht Veränderung, darüber dürften wir uns alle einig sein: „Es muss anders werden, wenn es gut werden soll.“

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So ließe sich dieses auch mit Blick auf anstehende Veränderungen in unseren Schulen formulieren, was in der stets gewohnten Regelmäßigkeit formuliert und nach den immer wiederkehrenden Desastern der Leis­tungsmessungen besonders laut gefordert wird. 

Als der Komponist Wolfgang Rihm anlässlich seines damals sechzigsten Geburtstags das alte Klassenzimmer seines Karlsruher Gymnasiums be­trat, fand er zu dem Ergebnis der schulischen Reformbewegungen der letzten 50 Jahre und im Anbetracht von Sitzordnung und Tafelanschrieb die passenden Worte: „Irgendwie das Waschbecken scheint neu.“ 

Dass in einer Schule, die Routinen mag, die von den Einzellogiken der Fächer und ihren kompetenzorientierten Autopiloten gesteuert wird, das Mindset für Veränderungen eingeschränkt ist, zeigt sich nicht nur in Rihms Schulbesuch, sondern auch in den bildungspolitischen Forderungen nach der jüngsten Pisa-Untersuchung: „Alle sind sich einig, dass es jetzt vor allem auf die Stärkung der Basiskompetenzen ankommt, und das möglichst frühzeitig“, ließ die Berliner Bildungssenatorin jüngst verlauten. „Die KMK schärft derzeit ihre Empfehlungen für die Grundschulen und bereitet eine deutliche Stärkung des Deutsch- und Mathematikunterrichts vor. Wir brauchen insbesondere eine gezielte Sprachförderung, die in der frühen Bildung ansetzt und die Lernenden länger begleitet.“ Wie hier ein Veränderungsprozess gestaltet werden soll, darüber scheint sich die Ständige Wissenschaftliche Kommission (SWK) als unabhängiges Beratungsgremium der KMK schnell einig: Es braucht mehr Unterricht in Deutsch und Mathematik, weniger in den dekorierenden Begleitfächern. Schnell ist man sich einig, wenn solch ein Gremium ausschließlich mit Vertreter*innen der Naturwissenschaften, der Mathematik und der Sprachwissenschaft besetzt ist. Es braucht also mehr Zeit für etwas, das bisher wohl nicht funktioniert zu haben scheint, mehr Raum, der nicht zuletzt jenen künstlerischen Selbst- und Weltzugängen abgesprochen wird, die bisher ohnehin kaum ihren Platz in der Schule behaupten durften. Solch ein Verhalten erklärt sich durch das schulische Beharrungsvermögen gegenüber Veränderungen. Veränderung wird hier betrieben als ein Verteilungskampf innerhalb eines bestehenden Systems, um dieses zu behaupten. Von Veränderungen im Sinne einer Erneuerung kann hier wohl nicht gesprochen werden. 

Anders, aber noch nicht gut 

Befragt wurde Wolfgang Rihm auch nach dem, was ihm von der Schule geblieben sei, was er besonders geschätzt habe: „Freiraum! Die Schule hat mir Freiraum gegeben.“ Er spricht von einem „Neigungsanspruch“, von einer „Zuneigung mit Leidenschaft“, von all dem, was jedem Kind gegeben ist. Nahezu weltfremd, fast zynisch muten diese Worte an: Von solchen Freiräumen, die es ermöglichen, sich tief in etwas hinein zu versenken, darf heute wohl nicht mehr gesprochen werden. Das ist das aktuelle Resultat jenes Veränderungsprozesses, der sich nicht im leeren Klassenzimmer mit neuem Waschbecken ablesen lassen kann, das ist das Ergebnis eines an einseitiger Verzwecklichung ausgerichteten Veränderungsprozesses. Mit Blick auf Schule können wir heute sagen, dass sie „anders“, aber wohl nicht „gut“ geworden ist. Und es sei hier gründlich in Frage gestellt, ob ein mit Hashtag versehenes „Mehr-Deutsch-und-Mathematik-in-der-Schule“ die Schule und die Welt, in der wir leben, zu einer besseren macht. Der seit der Aufklärung gepriesene Zusammenhang zwischen Wissen und Emanzipation, die nahezu euphorische Annahme kompetenzorientierter Fortschrittserzählungen, die mit Verdichtung, Optimierung und Beschleunigung zu Verbesserungen im sozialen und moralischen Sinne führen sollten, ist längst zerborsten. Wenn man darüber nachdenken möchte, wie sich Schule verändern soll, wie die Schule dazu beitragen kann, eine Welt zu gestalten, in der wir morgen leben möchten, dann lassen sich solche Diskussionen weder in sektionalen Einzelgliedern einzelner Fächer noch hinter verschlossenen Türen führen. 

In seiner Philosophie der neuen Musik übt Theodor W. Adorno Kritik an einem Fortschritt als „Mißbrauch im Dienst des Bestehenden“ (S. 10), wobei in der aktuellen Bildungspolitik die musikalische Bildung diejenige zu sein scheint, die hier mitnichten unter Bestandsschutz gestellt wird. Auch wenn man Adornos Betrachtungen über Veränderung, über Fortschritt und Regression in der Musik heute nicht mehr in allen Punkten folgen möchte, so ließe sich das System Schule mit seinen Worten treffend beschreiben: Die Kritik an der herrschenden Unfreiheit muss benannt werden, ein Missbrauch im Dienste des Bestehenden verhindert werden. 

All das muss natürlich auch dazu führen, dem Musikunterricht seinen Spiegel vorzuhalten: Wie öffnen sich hier Freiräume, wie können wir hier mit Fug und Recht – und auch mit Wolfgang Rihm – von einem Neigungsanspruch sprechen, wie kann man sich hier in künstlerische Prozesse hineinversenken, wie kann Musik zum inneren Besitz werden, wenn es in einem schulischen System erforderlich scheint, diese in Arbeitsbögen abzuheften und solch eine Besitzergreifung mit infantilen Musizierangeboten, mit „kindertümlichen Instrumenten“ einzufordern, wie dies in Baden-Württembergs abgelegtem Bildungsplan formuliert steht, der während Wolfgang Rihms Grundschulzeit noch seine Gültigkeit besaß. Im Übrigen erwähnt Rihm seinen schulischen Musikunterricht nicht. Ob hier bereits alle Wege hin zu einem besseren gegangen sind, wenn demnächst laut hessischem Koalitionsvertrag allen Kindern in der Grundschule die Blockflöte zugänglich gemacht werden soll, oder ob die Veränderungsprozesse sich hier noch in den immer wiederkehrenden Jahreszeiten ausleben, ist durchaus noch zu diskutieren. 

Bereit für den Dialog

Jede Veränderung ist mit einem Loslassen verbunden, aber wie der Fortschritt ist auch die Veränderung ein Prozessbegriff. Es geht, wie Rahel Jaeggi dies mit Blick auf die anstehenden gesellschaftlichen Transformationen in ihrer druckfrischen Abhandlung über Fortschritt und Regression beschreibt, nicht „um das nackte Geschehen, also die empirische Wirklichkeit oder die Ereignisse selbst“ (S. 21), sondern um die Erwartungen, die wir an unsere Welt richten. Der Dialog über solche Fragen darf nicht nur unter jenen geführt werden, die einzig meinen, ein sprachliches oder mathematisches Vermögen messen zu müssen. Hier muss der ganze Mensch in den Blick genommen werden, gerade in der Grundschule, wo die Welt für unsere Kinder nicht nur aus Fächern besteht. Dass Lernen immer ein ästhetisches Lernen ist, dass es stets im wahrnehmenden und hineinvertiefenden Erforschen und Gestalten unserer umgebenden Welt beginnt, dass in der Kunst nicht nur ein Wissen steckt, das ausgedrückt und zum Vorschein gebracht werden möchte, sondern dass die Kunst andere Bereiche des Menschseins anspricht, im sozialen Miteinander nicht nur Weltbezüge herstellt, sondern uns auch von einer besseren Welt träumen lässt, muss hier wohl nicht weiter betont werden. 

Wie wohl alle Kunst- und Kulturschaffenden, erklärt sich der BMU bereit, sich in umfassender Weise an solch
einem Dialog zu beteiligen. Dabei lässt sich nicht versprechen, dass jede Veränderung zu etwas Besserem führt, aber in Anlehnung an Lichtenberg soll hier behauptet werden, dass sich die Schule verändern muss, wenn sie gut werden soll!

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Anmerkungen

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Adorno, Theodor W. (1975): Philosophie der neuen Musik., Ges. Schriften, Bd. 12, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Jaeggi, Rahel (2023): Fortschritt und Regression. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Musik baut Europa: Wolfgang Rihm – Erinnerungen an die eigene Schulzeit (2012).
[https://www.youtube.com/watch?v=OW8KnbMlma8, Abruf: 18.02.2024].

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