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Wenn die Lösung zum Problem wird

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Besorgniserregende Situation beim musikpädagogischen Nachwuchs
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„Es gibt also keinen Ausweg aus der erfundenen Ordnung“, schreibt Yuval Noah Harari in „Eine kurze Geschichte der Menschheit“. Harari ist nicht der Einzige, der zu dem Schluss kommt, dass es kein Entkommen gäbe aus unseren selbstgebauten Käfigen, als seien wir überall im Leben von Kräften bestimmt, über die wir keine Kontrolle hätten.

Insgesamt ist es um die Musik nicht schlecht bestellt: Auch in Zukunft werden genügend Hornisten ausgebildet und auch weiterhin werden sich alle Planstellen für Konzertpianisten besetzen lassen. Die Situation des Musikunterrichts an den allgemeinbildenden Schulen stellt sich hingegen als äußerst dramatisch dar: Es fehlen die Lehrkräfte, die Zahl der Studienanfänger bricht dramatisch ein, an manchen Institutionen gibt es mehr freie Studienplätze als Bewerber, obwohl inzwischen mehr als eine Million Kinder und Jugendliche am Wettbewerb Jugend musiziert teilgenommen haben. Früher konnte man nach mehr Studienplätzen rufen, Musikhochschulen an ihre gesellschaftliche Verantwortung erinnern, einen barrierefreien Zugang zum Zweitfach fordern, mit Doppelfachlösungen das Studium attraktiver gestalten oder die Eignungsprüfung durch ein Kolloquium mit Blick auf das spätere Berufsbild pädagogisch ausstaffieren. Man durfte sich darin begnügen, sich in solch einem begrenzten Repertoire möglicher Verhaltensweisen innerhalb des bewährten Systems zu bewegen, oder tröstete sich in Erklärungen, die das Problem außerhalb des eigenen Zuständigkeitsbereichs verorten: Bequem ließ sich hier mit dem bildungsbeschleunigten Schulbetrieb, den Überangeboten im Freizeitbereich und nun auch mit der besonderen Corona-Situation argumentieren. Menschen und Tiere haben nun mal die Eigenschaft, stur an jenen Lösungen festzuhalten, die einmal vielleicht die bestmöglichen waren, auch dann, wenn sich längst die Umweltbedingungen geändert haben. Es ist die Ökonomie des Verhaltens, die uns an das bindet, was einmal für adäquat gehalten wurde.

„Kann ein Rapper oder Beatboxer Musiklehrer werden?“, diese Frage stellte unlängst eine Leipziger Schülerin auf einer musikpädagogischen Tagung – und stellte damit Axiome, die für ein künstlerisches Studium an einer Musikhochschule als unanfechtbar gelten, in Frage. Sie selbst besucht ein Gymnasium mit vertiefter musikalischer Ausbildung und hatte ganz konkret einen Mitschüler im Blick, den sie zwar für einen geeigneten Musiklehrer hielt, der aber wohl nicht in das Anforderungsprofil jener Musikhochschule passte, in der die Tagung stattfand.

Wolkenkuckucksschmiede?

Doch blicken wir zunächst zurück, erinnern uns daran, dass früher nicht alles schlechter war, und denken dabei an den Rundfunk-Jugendchor Wernigerode, der von niemand geringerem als Volksbildungsministerin Margot Honecker zum Ort der Frühförderung des musikpädagogischen Nachwuchses erklärt wurde. Initiativen für mehr Musik in der Schule sind also keine neuzeitliche Erfindung. Solche Lösungen müssten eigentlich innerhalb der bestehenden Ordnung längst gefunden sein: Schließlich feiert heutzutage jede Musikhochschule ihre Young Academy, die sich in Kooperationen mit Musikschulen um den leistungs-orientierten Nachwuchs kümmern, durch Musikzüge an Gymnasien entstehen trilaterale Formen der Zusammenarbeit.

All diese sich selbst tragenden Systeme, die sich im Sinne ihres gemeinsamen Anliegens immer mehr aufeinander zubewegen, sollten doch eigentlich geeignet sein, eine junge Generation von Musikpädagogen auf ihr zukünftiges Studium vorzubereiten. Bereiten all diese Maßnahmen auf ein breites Spektrum aller Musikberufe vor oder geht es hier vornehmlich um Frühförderung für eine Wolkenkuckucksschmiede? 70 Prozent der Absolventen einer Musikhochschule wünschen sich den Weg ins Orchester, den meisten bleibt dieser verwehrt. Wird im Studium auf Alternativen vorbereitet oder ergießt man sich hier im künstlerisch-träumerischen Schwärmen von höherem Blut? Im Moment scheint es, als würde es hier nicht in gebotener Weise gelingen, junge Menschen zu begeis­tern, ihre Liebe zur Musik an andere weiterzutragen und einen musikpädagogischen Beruf zu ergreifen. Bereits für den Jugend-Rundfunkchor wurde die Lösung zum Problem, weil sich die Exzellenz dieses Chores in einer Weise entwickelte, dass den jungen Menschen auch andere Türen offenstanden.

Welche Auswege aus den selbsterfundenen Ordnungen können wir hier finden? Heute sind die Musikmentorenprogramme mit ihrem breiten Ausbildungsangebot wohl ein geeigneter Ort, um junge Menschen für den Beruf des Musiklehrers zu interessieren. In Baden-Württemberg feiert das vom Minis­terium für Kultus, Jugend und Sport geförderte Programm bereits seinen 25. Geburtstag, in anderen Bundesländern gibt es solche in modifizierter Form. Eigentlich könnte die Welt doch schön und heil sein.

Zunächst einmal ist es die erfundene Ordnung des Musikunterrichts selbst, die wir befragen müssen. Gestaltet dieser sich so, dass alle ihn als für sich bereichernd empfinden und sich junge Menschen dazu animiert fühlen, hier ihre eigene berufliche Zukunft zu suchen? Ein Musikunterricht, in dem die Dimensionen des Künstlerischen keinen Platz finden, weil er sich zwischen unzulänglicher Reproduktion und mühsamer Reflexion bewegt, tut dies anscheinend nicht. Ein sich künstlerisch nennendes Studium, das zwar ein künstlerisches Hauptfach pflegen lässt, die gebotenen Perspektiv­wechsel, die hinsichtlich einer künstlerischen Musikpädagogik notwendig sind, aber nicht vollzieht, bereitet nur unzulänglich auf die Berufswirklichkeit vor. Dass viele Studierende dann andere Lebenswege einschlagen, ist daher nur verständlich. Schließlich wurde auch der eigene Musikunterricht nicht als ein Unterricht empfunden, in dem Kunst Wirklichkeit wird.

Es gibt einen Ausweg

Die Frage, ob ein Beatboxer oder Rapper nun Musiklehrer werden könne, ist längst positiv beantwortet. Genauso ist es möglich, ein Studium mit dem künstlerischen Hauptfach Baglama oder Saz zu absolvieren, seine künstlerische Praxis im Backspinning und Scratching oder in digitalen Musikpraxen zu finden, auch wenn viele Institutionen diese künstlerischen Hauptfächer noch für sich entdecken müssen oder diese mit dem Argument abwehren, hier keine professorale Lehre anbieten zu können, obwohl der Hauptfachpianist von einem Lehrbeauftragten unterrichtet wird.

Es gibt also doch einen Ausweg aus der erfundenen Ordnung, ließe sich auch hier einwenden. Und natürlich wird auch die hier bereits offerierte Lösung zum Problem, wenn diese Möglichkeiten sich weder bei Kindern und Jugendlichen noch bei ihren Musik- beziehungsweise Instrumentallehrern herumsprechen und der derzeit stattfindende Musikunterricht noch wenig geeignet scheint, die sich hier offenbarenden Potenziale dieser Studierenden auch in geeigneter Weise abzubilden. Stattdessen werden immer noch Mythen über Eignungsprüfungen verbreitet, die zwar wie alle Mythen Anspruch auf Geltung der hier behaupteten Wahrheiten erheben, die sich aber längst nicht mehr für alle Studiengänge und Institutionen generalisieren lassen.

Ein Ausweg ist insgesamt nur zu finden, wenn sich die erfundenen Ordnungen ausnahmslos in Frage stellen lassen. Vielleicht schaffen es die künstlerischen Schulfächer insgesamt, Schule mit ihren Mitteln zu verändern, statt sich willig in das erfundene System zu fügen. Wir sollten uns weder von vorgefertigtem Fertigwissen einschläfern lassen, noch durch die eigenen Selbstoptimierungen, die wir dann als künstlerische Exzellenz bezeichnen, den Blick auf jenes verstellen lassen, das Autoren wie John Dewey und Paul Valery immer wieder mit großem Respekt beschrieben haben: Das ist das Erstaunen, manchmal auch das immer dazugehörende Befremden, das sind die intensiven und erfüllten Begegnungen, die im Umgang mit Kunst, und zwar nur hier, möglich sind. Dass wir hier die erfundenen Ordnungen ablegen müssen, sollte uns nicht davon abhalten, neue Wege zu gehen.

Studienstandorte in Deutschland:
bmu-musik.de/musiklehrer-werden/studienstandorte/
Musikmentorenprogramme: bmu-musik.de/musiklehrer-werden/musikmentorenprogramme/

 

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