„Wo sind denn hier die Überäume?“ Vater, Mutter und zwei Töchter stehen erwartungsvoll im Türrahmen des Konservatoriums Schwerin. Die Anstrengungen der lange Reise quer durch Deutschland sind ihnen nicht mehr anzumerken, der Fokus liegt nun ganz auf den Ereignissen der kommenden drei Tage: Das „Wochenende der Sonderpreise“, kurz WESPE, steht vor der Tür.
Wer den zurückliegenden Bundeswettbewerb „Jugend musiziert“ mit einem ersten, zweiten oder dritten Bundespreis absolviert hat, gehört zur Klientel der Teilnehmer an WESPE. Vom 7. bis 9. September fand der „Wettbewerb für die Besten der Besten“ in Mecklenburg-Vorpommerns Landeshauptstadt Schwerin statt.
Der jungen Musikerin wird der Weg zum Überaum gewiesen, die Eltern und die kleine Schwester verinnerlichen derweil die Adressen der Wertungsorte und nützen die Gelegenheit zu einem kurzen Sightseeing.
Der Einladung zu WESPE 2012 sind in diesem Jahr rund hundert Nachwuchsmusiker gefolgt. „Es erfüllt uns mit Stolz, dass wir über den Bundeswettbewerb hinaus mit der Einladung zu WESPE nochmal für unsere Stücke, unsere Anstrengungen geehrt werden“, so der 19-jährige Hornist Marc Christian Gruber aus Hünxe. Er ist Teil eines Trios, das für die Kategorie „Beste Interpretation eines Werks einer Komponistin“ eingeladen worden war, eine der drei „offenen“ WESPE-Kategorien. Das sind diejenigen, in denen ein Bundespreis Voraussetzung ist, um dann ein selbstgewähltes, in die Kategorie passendes Werk zu präsentieren. „Werk der Verfemten Musik“ und „Eigenes Werk“ gehören ebenfalls dazu.
Die Teilnahme an den anderen drei Kategorien ist nur dann möglich, wenn man für das Werk von der Jury des Bundeswettbewerbs eine hohe Bewertung erhalten hatte. Mit diesem Stück tritt man dann auch bei WESPE an. „Zeitgenössisches Werk“, „Werk der Klassischen Moderne“ und „Für ‚Jugend musiziert‘ komponiertes Werk“ lauten diese Jury-Vorschlags-Kategorien.
Die jungen Künstlerinnen und Künstler, die sich unter dem Dach der fünften WESPE versammeln, sind aus ganz besonderem Holz geschnitzt. Neugier treibt sie an, Forschergeist, eine ungeheure kreative Energie. Und es braucht auch Mut. Denn während man beim Bundeswettbewerb auf einen enormen Fundus durch Generationen abgesicherter Wettbewerbsliteratur zurückgreifen kann, ist hier sozusagen offenes Gelände, in das man sich mit sperrigen Werken hineinwagt, eigene Entdeckungen vorstellt oder sich selbst in Personalunion als Komponist und Interpret der Beurteilung durch eine Jury aussetzt. Beim Wettbewerb „Jugend musiziert“ gilt es, mit Werken verschiedener Epochen seine Vielseitigkeit und stilistische Bandbreite zu beweisen. Bei WESPE liegt der Fokus auf einem einzigen Werk, das künstlerisch durchdrungen sein will. Hier steht der interpretatorische Spannungsbogen im Vordergrund. Gefordert ist der selbstbestimmte junge Interpret, was auch eine Neudefinition der Beziehung zwischen dem Lehrer und seinem Schüler zur Folge hat: „Es ist ein bisschen wie bei einem Bergführer. Er zeigt seinem Schüler, was es zu entdecken gibt. Dann aber geht der Musiker dem Ziel auf eigenen Pfaden entgegen“, so Professor Ulrich Rademacher, Vorsitzender eines der drei großen Jurygremien in Schwerin.
Kompositionen für WESPE: Hier hilft „Impulse“
In der Kategorie „Für ‚Jugend musiziert‘ komponiertes Werk“ steht die Beziehung zwischen dem Komponist, dem Interpreten und seinem Publikum im Mittelpunkt. Komponisten sollen hier angesprochen werden, ein neues Werk zu schreiben, das der junge Interpret dann im Kontext von „Jugend musiziert“ uraufführt. „Es ist ein besonderer Vorgang, für eine bestimmte Person zu schreiben, deren musikalische Fähigkeiten man kennt, von der man weiß, wie sie das Stück spielen wird. WESPE 2012 bot den Jurymitgliedern ein großes Spektrum an Komponisten an: von Vater und Mutter über Lehrer bis hin zu dem prominenten sächsischen Komponisten Hermann Keller.“ Rademacher ist sich sicher: Diese Kategorie entwickelt auf Dauer eine große Strahlkraft in den Konzertbetrieb hinein. Zusätzlichen Schub verleiht ihr ein neues Förderprojekt des Deutschen Musikrates, „Impulse“: Junge, exzellente Musiker, die vor der Teilnahme an einem Wettbewerb des Deutschen Musikrats stehen, kooperieren hier mit zeitgenössischen Komponisten, geben Werke in Auftrag, erarbeiten diese mit Unterstützung der Komponisten und bringen sie anschließend im Rahmen eines der Wettbewerbe des Deutschen Musikrats und in nachfolgenden Konzerten zur Aufführung. Für jedes geförderte Projekt stehen bis zu 8.000 Euro zur Verfügung. (Details auf der Website von „Jugend musiziert“.) Selten gespielt,
vergessen, diese Schlagworte gelten auch für zwei andere WESPE-Kategorien: die Werke von Komponistinnen und die Werke der „Verfemten Musik“. In beiden Fällen sind es außermusikalische Gründe, die diese Stücke haben in Vergessenheit geraten lassen. Beim Blick in die WESPE-Programme dieser beiden Kategorien seit 2008 sieht man, dass die jungen Interpreten bereits spektakuläre Entdeckungen gemacht haben und dass dies erst der Anfang einer großen Schatzsuche ist. Die vergessenen Werke eines Erich Zeisl, Gideon Klein, Victor Ullmann oder Peter Wallfisch, auf dessen umfangreiches Schaffen Volker Ahmels im Rahmen eines WESPE-Workshops über „Verfemte Musik“ hinwies, stehen neben den unentdeckten Werken vergessener Komponistinnen. „Präsentiert wurde uns von den Musikern eine enorme stilistische Bandbreite. Sie reichte von Frauen des 19. Jahrhunderts wie Ekaterina Walter-Kühne bis zu prominenten Zeitgenossinnen wie Grazyna Bacewicz oder der Kanadierin Elisabeth Raum“, so Rademachers Resümee.
Auch Geldpreise motivieren
Zwischen dem Ende des Bundeswettbewerbs und dem Wettbewerb WESPE liegen etwa drei bis vier Monate. Hat man den Bundespreis in der Tasche, die Einladung zu WESPE erhalten und entschließt sich zur Teilnahme, muss die kurze Zeitspanne intensiv genutzt werden. In drei Kategorien spielt das seit langen Monaten geübte Musikprogramm des Bundeswettbewerbs weiterhin eine Rolle, für die anderen Kategorien müssen geeignete Werke gefunden, komponiert, geübt werden. Die Motivation über einen solch langen Zeitraum zu erhalten, ist nicht einfach. Dennoch nehmen die Musikerinnen und Musiker diese Herausforderung immer wieder an, aus unterschiedlichen Motiven: Das innere Bedürfnis, sich als Interpret zu bewähren, sich in einem neuen Kontext zu beweisen, sind Beweggründe, wie auch sportlich-spielerische Aspekte.
Was WESPE zusätzliche Attraktivität verleiht, das ist nicht zuletzt die Aussicht auf einen der gut dotierten Geldpreise, die in den sechs Kategorien ausgelobt sind. Zwölf Institutionen und Stiftungen – zum großen Teil sind sie WESPE von Anbeginn eng verbunden – stellten in diesem Jahr Preisgelder von insgesamt rund 30.000 Euro bereit, detailliert einzusehen unter http://www.jugend-musiziert.org/bundeswettbewerb/wespe/ergebnisse.html. Die Gastgeberstadt Schwerin tritt als Preisstifterin seit der ersten WESPE im Jahr 2008 in Erscheinung. Die Stadtwerke Schwerin loben einen Sonderpreis in der Kategorie „Werk der Verfemten Musik“ aus, als jüngster Stifter hinzugekommen ist das norddeutsche Unternehmen Feldtmann. Die Inhaberin Brigitte Feldtmann stellte über die gemeinnützige Projekt-GmbH „Feldtmann kulturell“ 3.000 Euro für die Kategorie „Zeitgenössisches Werk“ bereit.
Nach dem herzlichen Empfang durch die gastgebende Stadt Schwerin und der Begrüßung durch Oberbürgermeisterin Angelika Gramkow startete der Wettbewerb an mehreren Orten der Stadt, die rund hundert Jugendlichen präsentierten in den Wertungsspielen ihre jeweils „Beste Interpretation“ vor den kritischen Augen und Ohren der international besetzten Jurygremien.
Anschub für zeitgenössische Musik
In einem speziellen Fall hat eine traditionsreiche Kategorie des Bundeswettbewerbs bei WESPE eine neue Heimat gefunden: die „Beste Interpretation eines zeitgenössischen Werks“. Einen kleinen Spezialwettbewerb mit Neuer Musik des 20. Jahrhunderts hatte es über Jahrzehnte hinweg innerhalb der Bundeswettbewerbstage gegeben. Seit 2008 ist die ehemalige „Sonderwertung Z“ als „Beste Interpretation eines zeitgenössischen Werks“ nun eine der sechs Kategorien von WESPE, mit Werken des 20. und 21. Jahrhunderts. Mitmachen kann in dieser Kategorie nur derjenige, dessen Vortrag eines zeitgenössischen Werks von der Jury des Bundeswettbewerbs besonders hoch bewertet wurde. Aufgrund dieser langen Tradition im Umgang mit zeitgenössischer Musik sind Veränderungen in Rezeption und Interpretation durch Generationen von „Jugend musiziert“-Teilnehmern besonders gut zu beobachten. Hartmut Gerhold, der Juryvorsitzende dieser WESPE-Kategorie, zeichnet ein zwiespältiges Bild: „Bis vor einigen Jahren war ein Werk aus dieser Epoche verpflichtend für das Wettbewerbsprogramm bei ‚Jugend musiziert‘. Seit diese Verpflichtung weggefallen ist, nimmt die Zahl der zeitgenössischen Werke in den Wettbewerbsprogrammen ab. Entsprechend auch die Zahl der hervorragenden Teilnehmer, die die Bundesjury für WESPE empfehlen kann. Diejenigen jedoch, die nach Schwerin gereist waren, präsentierten in dieser Kategorie eine große Bandbreite an Literatur. Beginnend mit Werken, die auch in den Musikunterricht Eingang finden, bis hin zu großen Komponisten wie Jörg Widmann, Edison Denissow oder Theo Brandmüller.“ Was gespielt wird, hängt auch hier mit dem Lehrer und seinen Repertoirekenntnissen zusammen. Im standardisierten Konzertbetrieb ist der Umgang mit zeitgenössischen Werken eher verhalten und auch im Rundfunk sind sie immer seltener zu hören. So bricht Gerhold an dieser Stelle auch eine Lanze für WESPE. Sie bietet zeitgenössischer Musik eine öffentliche Bühne und trägt so zu ihrer Verbreitung bei.
Das mecklenburgische Staatstheater war am Vormittag des 9. September schließlich der Schauplatz, an dem sich die WESPE-Preisträger 2012 der Öffentlichkeit mit ihren ausgezeichneten Werken präsentierten. 48 Interpretinnen und Interpreten erhielten, teils aus den Händen der angereisten Stifter, ihre Geldpreise. Nicht nur in dieser Hinsicht hat sich das Forschen gelohnt!