Ein paar von ihnen liegen auf der Wiese unter Bäumen, andere lehnen im Schatten der Remise an der Wand, über den Vorplatz weht ein warmer Sommerwind, der den Staub in der Luft tanzen lässt. Dieser Nachmittag im August strahlt die lässige Atmosphäre eines Italo-Western aus, unwillkürlich sucht man nach den Pferden, mit denen die jungen Leute den Hof erreicht haben müssen. Jedoch bleibt das Auge an Cellokästen hängen, die im Gras liegen. Daneben ein Hornkoffer und einer fürs Fagott: so sieht die Mittagspause beim deutschen Kammermusikkurs „Jugend musiziert“ aus, der vom 27. Juli bis 9. August in der Landesmusikakademie Sondershausen stattgefunden hatte.
„Alte Musik“ bildete in diesem Jahr, dem 45. seines Bestehens, den Schwerpunkt des Kurses und die barocke Akademie, untergebracht im Marstall des Schlosses Sondershausen, erbaut von den Grafen und Fürsten Schwarzburg-Sondershausen, bot die authentische Kulisse für die Werke von Haydn, Danzi, Fasch, Loeillet de Gant, Marais und Bach. Auf der anderen Seite der Zeitachse fanden sich Komponisten wie Reinecke,
Koechlin, Honegger, Denissow oder Poulenc, insgesamt 23 Werke aus 4 Epochen standen damit auf dem 14-tägigen Kursprogramm. Sie wurden täglich geprobt und acht renommierte Dozenten vermittelten ihre Kenntnisse, ihre Erfahrung und ihr Wissen: Ulf Tischbirek (Violoncello), Geoffry Wharton (Violine), Peter Damm (Horn), Martin Spangenberg (Klarinette), Angelika Merkle (Klavier), Gottfried Bach (Cembalo), Yuta Nishiyama (Viola) und der künstlerische Leiter des Kammermusikkurses Hartmut Gerhold (Flöte).
„Blind date“ mit den Ensemblepartnern
43 junge Leute, allesamt mit Preisen beim Bundeswettbewerb „Jugend musiziert“ ausgezeichnet, waren zum Kammermusikkurs eingeladen worden. Ein kleines Abenteuer und ein großer zusätzlicher Energieaufwand, denn eben erst hatten einige von ihnen das Schuljahr beendet, andere kürzten ihre Ferien ab, denn vom Ende des Kurses ging es direkt in das neue Schuljahr hinein.
Das Abenteuer bestand andererseits darin, sich für einen Intensivkurs Kammermusik anzumelden, ohne zu wissen, mit wem man in den kommenden zwei Wochen über viele Stunden hinweg zusammen musizieren würde. Denn die Jugendlichen kommen als Solisten, nur ein kleiner Teil bewirbt sich als Ensemble oder gemeinsam mit Freunden. Die Zusammenstellung zu Ensembles besorgt das Dozententeam gemäß der Kursliteratur. Daraufhin erhalten die Musiker rechtzeitig vor Kursbeginn die Noten für durchschnittlich drei Stücke, proben die Stimmen zuhause und reisen dann zum „blind date“ mit ihren Ensemblepartnern an den Kursort. Folglich ist es sinnvoll, für diesen Kammermusikkurs 14 Tage festzusetzen, denn bevor die intensive Arbeit am Notentext, am Ensembleklang beginnen kann, müssen Nähe und Vertrautheit hergestellt sein. Eines der Kursziele ist die Aufführungsreife der Werke, sie werden in den traditionellen drei öffentlichen Abschlusskonzerten präsentiert. Wie gut es gelingt, das Vertrauen nicht nur innerhalb der Gruppe der jugendlichen Musiker, sondern auch zu den Dozenten herzustellen, zeigen nicht zuletzt die regelmäßig tränenreichen Abschiede am Ende des Kurses, die originellen, passgenauen Geschenke der Teilnehmer für ihre Lehrer beim „Bunten Abend“ in der Mitte des Kurses, das fröhliche Gruppenfoto und der muntere Disput zwischen Meister und Schüler, wenn es um Klangvorstellung oder Tempi geht. Die notierte Musik ist die Basis, auf der die Diskussionen geführt werden, und auch wenn die Dozenten zum Teil zwei Generationen älter als ihre Schüler sind, so wird niemals von „oben“ befohlen, sondern gemeinsam interpretiert und allerhöchstens empfohlen, eine Stelle auf diese oder eine andere Weise zu spielen. Vor der Musik treten die Generationsunterschiede in den Hintergrund, der Komposition wird mit Respekt und Demut begegnet, einzig die längere Erfahrung mit ihr unterscheidet die Lehrer von den Jungen, und bereitwillig machen sie sich ein wenig von dem, was der Erfahrene vermittelt, zu eigen.
Gestaltete Freizeit
Was den externen Beobachter eines solchen Kurses jedoch immer wieder aufs Neue fasziniert, lässt sich vielleicht am ehesten mit Effizienz beschreiben. Diese Jugendlichen, so „normal“ sie auch aussehen in ihren T-Shirts, Jeans oder Ethno-Röcken, verlieren keine Zeit, sie hängen nicht herum, ihre Wahrnehmung ist hellwach, sie haben etwas zu sagen, sie tauschen sich aus, über das eben Geprobte, über das Gehörte, sie gehen in allem, was sie tun, planvoll vor. „Nach dem Kurs fahre ich sofort nach Bayreuth zu den Festspielen“, sagt Carla Gedicke, „ich habe Karten für den Orchestergraben und kann’s kaum erwarten, den ganzen ‚Siegfried‘ hinter den Hörnern zu sitzen.“ Freizeitgestaltung ist hier gleichbedeutend mit Fortbildung. „Wenn du mir einen Kaffee mitbringst, spiele ich heute Abend mit dir Brahms“, lockt Andreas Lipp die junge Cellistin, die das Angebot sofort strahlend annimmt. Jeder einzelne dieser 43 Teenager hat einen umfangreichen und dicht gestrickten Terminkalender, nicht nur hier im Kurs, trotzdem sehen alle dabei sehr fröhlich und entspannt aus. Das Planen, der effiziente Umgang mit Zeit ist ihnen in Fleisch und Blut übergegangen, sie sind es seit Kindesbeinen gewohnt und so, wie sie hier im Rahmen des Kurses und unter musikalischen Vorzeichen Disziplin, Kontrolle über sich selbst und Zuhören einüben, werden sie auch alle anderen Aktivitäten in ihrem Leben angehen.
Die Dozenten sehen den Entwicklungsgrad ihrer Schützlinge naturgemäß kritischer. „Sie muss lernen, weniger zu reden“, kommentiert Peter Damm die Kommunikationslust einer Musikerin. Und alle zusammen schütteln sie dann amüsiert den Kopf über die jugendliche Maßlosigkeit, die sich, – wie sollte es bei einem Kammermusikkurs anders sein? – darin äußert, dass ständig und weit bis nach Mitternacht in kleinen, spontanen Ensemblebesetzungen musiziert wird. Koma-Musizieren also, soll man deshalb Dvorák-Streichquartette verbieten?
Kammermusikkurs und WESPE: Selbst bestimmtes Musizieren
Der Kammermusikkurs vermittelt Literaturkenntnisse, die der reguläre Instrumentalunterricht Zuhause nicht leisten kann. Kein Musiker von 15 Jahren bekäme eine Besetzung mit Klarinette, Posaune, Violoncello und Klavier zustande, wie sie für das Stück von Edison Denissow gefordert ist. Aber der Kammermusikkurs ist noch mehr: Er ist die Anleitung zum selbstbestimmten Musizieren, die Aufforderung, sich selbst in Beziehung zu Anderen zu setzen, einen eigenen Standort zu finden, sich künstlerisch zu behaupten und musikalische Aussagen zu machen. Was der Deutsche Kammermusikkurs seit mehr als vier Jahrzehnten für viele Generationen von „Jugend musiziert“-Preisträgern ist, verstärkt „Jugend musiziert“ nun seit kurzem mit WESPE, den „Wochenenden der Sonderpreise“, in Münster beim „Klassikpreis“ und in Freiburg mit Kompositionen des 20. und 21. Jahrhunderts. Auch bei WESPE geht es um die künstlerische Auseinandersetzung mit einem Werk, um die beste Interpretation von Werken, die zu Unrecht in Vergessenheit geraten sind und eben erst wieder Hörer finden wollen, die nicht zum gängigen Repertoire gehören, die schwierig oder zunächst unverständlich sind. Vier Jugendliche nutzten ihren Aufenthalt beim Kammermusikkurs dazu, sich mit dem von ihnen gewählten Werk auf WESPE vorzubereiten und es in einem der Konzerte zu präsentieren. „Jugend musiziert“ fordert mit seinem jüngsten Projekt WESPE einmal mehr den mündigen Interpreten, der den Mut hat, eigene Wege zu gehen. Wo produktive Neugierde und Kreativität das Leben bestimmen, sind die Hauptwesensmerkmale eines künftigen Künstlers oder Kunstkenners bereits bezeichnet.