Braunschweig. Klaviermusik des 20. Jahrhunderts mit Schwerpunkt György Ligeti stand auf dem Programm des letzten Klavierpodiums in der Klavierfabrik Grotrian-Steinweg.
Thomas Hell von der Musikhochschule Mainz begann das Klavierseminar mit dem Stück „Pittoresco“ op. 22 Nr. 7 aus „Visions fugitives“ von Sergej Prokofjew und stellte die grundlegende Frage: „Wie geht man an so ein Stück heran?“ Die großen, unbequemen Intervalle zuerst üben und zwar so lange, bis die Hände sich gegenseitig nicht „ablenken“. Auf diese Weise wurden 25 Minuten lang „coram publico“ gerade mal zwei Zeilen „geübt“ und das Publikum merkte, dass Prof. Hell besonderen Wert auf Sprachbilder legt, die der Interpretation helfen, wie etwa „Akkorde vom Baum pflücken“ oder „den Klang greifen wie einen Schwamm“.
Anschließend wurde eine Sonate aus dem Jahre 1948 des Komponisten Henri Dutilleux erarbeitet, die dieser für „sein erstes vollwertiges Werk“ hielt. In Frankreich, Korea und Japan wird dieses Stück mit Begeisterung gespielt, in Deutschland ist es weitgehend unbeachtet. Ein beeindruckendes Werk mit vielen problematischen Stellen. Hell kommentierte diese mit „Tempo braucht innere Ruhe“; „Klarheit trifft auf Dunkelheit“; „Eiskristalle und Wärme in Tönen einfangen“; „Thematische Verfolgung der Melodie zeigen, nicht nur einzelne Töne“ et cetera. Diese bildhafte Sprache passte perfekt zu den behandelten Stellen. Eine Übung zur Lockerheit der Hand durch Kreisen der Finger auf den stummen Tasten wird anerkennend auch vom Publikum erprobt. Die Etüde „Au gré des ondes“ aus „Six petites Pièces“ ist laut Hell der beste Einstieg zur Musik von Dutilleux. Allgemein gilt: Man muss unbeeinflusst von allem eine Idee zum Stück entwickeln und dies sei ein „lebenslanges Suchen“.
Ligetis 18 Etüden (3 Bände) gehören mittlerweile zum Pflichtprogramm in den Wettbewerben und weisen nicht nur in der Titelanlehnung eine Nähe zu Debussy auf. Hell demonstriert beeindruckend längere Stellen aus den Etüden und verrät beiläufig, dass die schwierigsten Etüden dem Pianisten zirka 300 Arbeitsstunden im „mühsamen, täglichen Lernen“ abverlangen. Der Schwierigkeitsgrad bei diesen unzähligen polytonalen und polyrhythmischen Stellen, komplementären Rhythmen und auch die Illusion von mehreren gleichzeitig ablaufenden Tempi oder die schwierige Verschiebung der Akzente nannte der Dozent „die Bösartigkeit dieser Etüden“: all das war dem anwesenden Fachpublikum dank seiner Demonstration leicht nachvollziehbar. Die interessanteste, schwerste und zugleich schönste Etüde Nr. 13 „L’escalier du diable“ beeindruckte nicht nur durch ungewöhnliche achtfache piano- beziehungsweise forte-Zeichen. Ligetis Inspiration waren Chopins, Liszts und Debussys Etüden. Ligeti wäre gerne Pianist geworden, gab sich jedoch zufrieden, „schwer zu komponieren“.
Mit Christoph J. Kellers „Tropfsteinhöhle“ setzte Hell seine Frage nach der Interpretation, dem richtigen Charakter, der passenden, stets sehr subjektiven Ausgestaltung eines Stückes fort, die nicht notwendigerweise mit der des Komponisten übereinstimmen muss. Die Etüde „L’hymne à l’amour“ aus Book IV Nr. 12 von William Bolcolm beeindruckte durch eine um sich kreisende, mystisch anmutende Achttonfolge. Die Notation der Stimmen auf vier Systemen unter einer Akkolade forderte auch das Lesen des Notentextes.
Zum Schluss erklang die „Fantasia Baltica“ von Manuel de Falla, die nicht nur technisch anspruchsvoll und sehr schwierig auswendig zu lernen ist, sondern auch schnelle, spanisch anmutende, „dolchstoßartige“ Charakterwechsel aufweist.
Ein beeindruckendes Seminar, das die Unsicherheit der Neuen Musik gegenüber nahm, ohne belehrend zu wirken. Es war eine wunderbare Erfahrung, die komplizierten harmonischen wie rhythmischen Gebilde als nachvollziehbar und sogar faszinierend zu empfinden. Hell zeigte, dass er ein wahrer Kenner und ein großartiger Interpret der Musik des 20. Jahrhunderts ist. Ein Gewinn für uns alle.