Yoga strebt zur Vereinigung. Das Wort Yoga bedeutet „Verbindung“ oder „Vereinigung“. Gemeint ist die innige Vereinigung von Körper, Atem und Geist. In der Yogapraxis verschmelzen Körper, Atem und Geist. Sie bilden eine Einheit. Beim Musizieren geschieht das Gleiche. Körper, Musik und Atem verschmelzen unmittelbar ineinander.
Beide Tätigkeiten verlangen hohe Konzentration und bedingungslose Hingabe an das Geschehen im HIER UND JETZT. Wenn diese Vereinigung mühelos gelingt, tritt die Persona zurück und ein ES tritt auf, Es musiziert. Dann wird Musik zu einer lebendigen Meditation ohne Persona, bei der Yoga und das Musizieren eine Synthese eingehen. Dabei stellt sich die Frage, wie diese hohe Kunst erreicht werden kann ohne Dauerschaden im Körper? Wie kann man diese Kunst bis ins hohe Alter genießen mit spielerischer Leichtigkeit? Denn wenn der Körper an seine Leistungsgrenze gelangt, können auch die Ausdrucksmittel des Geistigen nicht mehr gesteigert werden, mehr noch, wenn man im Laufe der Zeit Schmerzen oder Dystonie im Körper spürt, ist es oftmals zu spät. Das kann bis zur Berufsunfähigkeit führen. Berufsmusiker setzen ihren Körper und ihre Psyche hohen Belastungen aus, was schwere gesundheitliche Folgen nach sich ziehen kann. Was dann fehlt, sind regelmäßige Entspannung, ausgleichende Übungen, Zeit zu regenerieren und Präventionsmaßnahmen.
Musikerkrankheit und die Ursachen
Der wirkliche Musikeralltag sieht ganz anders aus, als es nach außen hin erscheint. Sehr oft hinterlässt diese außergewöhnliche Tätigkeit schmerzhafte Folgen bis hin zum Burnout. Es gibt nicht wenige Musiker, die auf Leistungsdruck, Zwang zur Perfektion und Lampenfieber mit der Einnahme von Suchtmitteln reagieren und so ihrem Körper großen Schaden zufügen. Ohne regelmäßige Erholung und Ausgleich wird der schönste Beruf der Welt zur Qual.
Die unerwartete Corona-Krise hat viele Musiker schwer belastet. Wegen der unsicheren Zukunftsaussichten auf dem Arbeitsmarkt sahen sich viele Musiker gezwungen, einen oder mehrere Jobs anzunehmen. Nicht zuletzt durch den steigenden Konkurrenzdruck, insbesondere auf internationaler Ebene, sind sie großen psychischen Belastungen ausgesetzt. 2007 führte die GEK (Gmünder Ersatzkasse) eine Befragung unter jungen Musikern durch, an der insgesamt 705 Musiker und Musikschüler beteiligt waren. Eines der wesentlichen Ziele dieser Studie war es, eine Prävention gesundheitlicher Beschwerden bei Musikern wirkungsvoll zu entwickeln. 1978 listete eine US-amerikanische Fachzeitschrift, „Performing arts medicine“, erstmals typische Erkrankungen von Musikern auf, die auf folgenden Ursachen beruhen:
- überhöhte Erwartungen und Anforderungen schon seit der Kindheit
- permanente Anforderungen an Perfektion sowie intensive und lange Übungszeit ab der frühen Kindheit,
- übermäßiger Konkurrenzdruck,
- hohe Angstbelastung im Hinblick auf mögliches Versagen,
- instrumentenspezifische Besonderheiten und Schwierigkeiten,
- unsichere Karrierechancen
Diese Ergebnisse sind auch im 21. Jahrhundert noch ebenso gültig wie damals. Viele junge Musiker waren schon im Alter von 10 Jahren und früher übertriebenen Erwartungen und Anforderungen durch Eltern ausgesetzt. Ein solcher Leistungsdruck seitens der Eltern hat erhebliche, lebenslange Auswirkungen auf die Gesundheit der Betroffenen. Während meiner Tätigkeit als Gesangspädagogin habe ich mehrere Jahre im Kinderchor und am Gymnasium Stimmbildung gegeben. Dabei hat sich immer wieder gezeigt, wie wichtig Atemarbeit ist. Bei Kinderchor-Konzerten bemerke ich regelmäßig, welche fatalen Folgen mangelnde Atemarbeit hat, wenn Kinder zum Beispiel nach jedem Takt, oft nach jedem zweiten Wort, schnell und hektisch durch den Mund atmen müssen. Dahinter steckt meist hoher Leistungsdruck, Angst und pädagogische Anforderungen, die nicht kindgerecht sind. Was fehlt, ist eine kindgerechte Atemschulung. Es fehlt eine allgemeine Atemschulung in der musikalischen Früherziehung, in der Musikschule und Musikhochschule.
Junge Musiker
Viele junge Musiker und Musikschüler klagen über Schmerzen in Schultern, Nacken, Rücken, Armen einschließlich der oberen Extremitäten und im Gesicht. 66 Prozent der jungen Musiker zwischen 10 und 22 Jahren leiden an Muskel/Skelettbeschwerden. Hier können nur frühe präventive Maßnahmen Abhilfe schaffen. Fragt man direkt nach Kenntnissen und Meinungen über Stressbewältigungs- und Entspannungstechniken, beantworten etwa 60 Prozent: „Ich weiß darüber zu wenig.“
Bei Musikstudenten
Bei einer Befragung von 197 Studenten der Freiburger Musikhochschule waren 85 Prozent von Aufführungsängsten sehr stark beeinträchtigt. Im Rahmen einer Masterarbeit von Christoph Skuk unter der Leitung von Dr. Wolfgang J. Fellner wurde von November 2020 bis Januar 2021 eine Studie unter Studierenden durchgeführt: 40 Prozent der Studienteilnehmer haben Muskelschmerzen, 17% Prozent vermuten, dass dies mit der Atmung, den Schmerzen und den Verspannungen zu tun hat. Präventive Maßnahmen sind ebenso unerlässlich wie Selbstfürsorge, um dem Burnout oder schlimmstenfalls der Berufsunfähigkeit vorzubeugen.
Atemyoga als Prävention für Musikergesundheit
Dietrich Fischer-Dieskau hat zum 80. Geburtstag in einem Interview gesagt: „Der Atem übersetzt die Musik.“ Nicht nur beim Singen, sondern beim Musizieren ist der gesamte Körper ein Instrument. Für die Musikergesundheit spielt die richtige Atmung eine zentrale Rolle. Die einseitige physische Beanspruchung durch das Instrumentalspiel, immer wieder die gleichen Bewegungsabläufe in einer stark angespannten Körperhaltung auszuführen, geht nicht spurlos am Körper vorbei. Solcher Stress und Leistungsdruck spiegeln sich in der Atmung wider. Musizieren mit flacher Atmung ist die Ursache der Fehlhaltung und führt auf Dauer zu körperlichen Beschwerden. Es entwickelt sich langsam ein falsches Atemmuster, was sich wiederum auf die Dauer auch auf die Psyche auswirkt. So fängt die Musikerkrankheit im Körper an und endet in der Psyche. Eine unzureichende Atmung ist kein kurzfristiges Phänomen, sondern entsteht als Ergebnis chronischer Muskelverspannungen. Sie hat Auswirkungen nicht nur auf den Alltag, sondern beim Üben und schließlich auf der Bühne.
Mit Atemyoga flache Atemmuster verändern
Eine wichtige Voraussetzung zur Stressvermeidung ist die Fähigkeit, Stress körperlich wahrnehmen zu können. Unser Körper besitzt die einzigartige Fähigkeit, sich selbst zu regulieren. Durch chronischen Stress verliert der Körper diese ureigene Fähigkeit und leidet an Kommunikationsproblemen innerhalb des autonomen Nervensystems. Um diese Fähigkeit wieder herzustellen, müssen der Körper und das Gehirn wieder neu lernen, sich zu entspannen, um den Atem zu vertiefen. Hier spielt die „Interozeption“ eine entscheidende Rolle. Sie ist ein Oberbegriff der Wahrnehmung; sie bezieht sich nicht auf die Außenwelt, sondern auf eine von innen, aus dem eigenen Körperraum gespürte Wahrnehmung wie Wärme, Durchblutung, tiefe Entspannung und innere Ruhe. Anders als manuelle Techniken, z. B. Physiotherapie, beruhen alle Achtsamkeitsübungen auf der Fähigkeit der Interozeption. Ein hoher Anteil der am Atem beteiligten Empfindungen wird von den interozeptiven Nervenenden generiert. Die Interozeption wird maßgeblich über die faszialen Rezeptoren im kollagenen Netzwerk gesteuert. Um rechtzeitig myofaszinale Schmerzzustände oder somatische Störungen wie Schulter-Arm-Syndrom zu vermeiden, sollte man früh genug die Interozeption entwickeln. Atemyoga basiert auf der Fähigkeit der Innenwahrnehmung. Atemyoga bietet den Musikern die Möglichkeit, sich über die Atmung zu verändern. Der unruhige Atem wird zum bewussten, ruhigen Atem. Somit wird tiefe Atmung ein Dauerzustand.
Ausgleich des autonomen Nervensystems, endokrine Veränderung mit Atemyoga
Durch diese Veränderung kommt der Grundzustand des Nervensystems von einem stressanfälligen sympathischen zu einem entspannten parasympathischen Zustand hin.
Wenn Sympathikus und Parasympathikus gut kooperieren, befinden wir uns in Kohärenz, in einem harmonischen inneren Zusammenschwingen. Atmung, Herzschlag, und Blutkreislauf werden synchronisiert. So entsteht eine gesunde, heilsame kohärente Atmung, die eine Wellenbewegung im Körper auslöst und die Herzschlagvariabilität (HRV) erhöht. Je variabler der Herzschlag, desto besser kann das Herz auf Herausforderungen reagieren und sich dann wieder beruhigen. Somit wird der vagale Tonus erhöht.
Atemyoga verfeinert die interozeptive Wahrnehmung und stärkt die Selbstregulation des Körpers. Nach der entspannten Yogastunde produziert das rechte Gehirn die Glückshormone Serotonin, Dopamin und Endorphin. Dopamin löst ein Gefühl der Belohnung aus, wenn das Gehirn etwas Neues lernt. Wenn wir unsere Augen schließen und entspannter, unfokussierter werden, tritt der Default Mode Zustand ein. In diesem Zustand verbinden sich die verschiedenen Regionen im Gehirn und fangen an zu korrelieren. Dann verlangsamen sich die Gehirnwellen und produzieren sogenannte Alpha-Wellen. Alpha-Wellen fördern die Integration von rechter und linker Gehirnhälfte. Beginnen die Alpha-Wellen im Gehirn zu dominieren, wird das Glückshormon Endorphin produziert. Endorphin hat eine ähnliche Wirkung wie Morphine, aber die Wirkung ist 5- bis 6-mal stärker als Morphium. Kultiviert man regelmäßig mit Yoga und Meditation diesen Zustand, dann wird diese Information in der DNA gespeichert und nimmt Einfluss auf die epigenetische Entwicklung. Der Alltagsgeist kommt immer mehr zur Ruhe, und der Körper produziert Betha Endorphin. In diesem Zustand verbindet sich das Bewusste mit dem Unbewussten, das in uns als Potenzial schlummert. Diese Verbindung zwischen Bewusstem und Unbewusstem ist eine schöpferische Quelle für Musiker und Künstler.
Die Erfahrung der Stille in der Yogapraxis
Musiker*innen leiden häufig unter Gehörschäden und Tinnitus. Wenn eine Yogastunde ohne Musik stattfindet, bietet sie die Gelegenheit für eine tiefe Erfahrung der Stille. Gleichzeitig findet ein Sinnesrückzug statt. Die Gedanken und Emotionen kommen zu einem Null-Punkt. Nach dem OM chanten, wenn der Klang verschwindet, entsteht unmittelbar danach eine große ausdrucksvolle Stille. In dieser Stille erfahren wir den Moment der Auflösung. Die Musik stammt aus der Stille und geht wieder in die Stille. Wer die Fülle der Musik verstehen will, muss zuerst die Stille hören und in ihr verweilen können. Wer die Klänge in ihrer ganzen Dimension erfahren will, muss vorher gelernt haben, Stille zu hören. In der Stille erfahren wir den Raum und Kosmos in uns.
Psychomentale Einheit im Alltag und auf der Bühne
Neben der musikalischen Ausbildung benötigen die Berufsmusiker auch eine geschulte Körperwahrnehmung und einen bewussten Umgang mit sich selbst, um einen Spagat und eine Spaltung zwischen privatem Leben und Beruf zu vermeiden. Regelmäßige Pflege von Körper und Atem lässt eine liebevolle Beziehung zu sich selbst entstehen. Auf diesem Wege wird eine psychomentale Einheit hergestellt, die wir in unserem Berufsleben so sehr benötigen. Diese Einheit wirkt sich auf das private Leben ebenso wie auf das Musizieren im Berufsleben aus. Atemyoga erfüllt beide Voraussetzungen, sowohl auf psychischer als auch auf mentaler Ebene. Yoga ist die Übung des „Seins“. Wenn diese Übung des Seins ohne Stress und Leistungsdruck lange Zeit ununterbrochen mit einer Haltung der Hingabe vollzogen wird, bereitet sie eine feste Grundlage in Körper und Geist. Es wächst die Freude des Seins im Alltag. Aus der Erfahrung der Mühelosigkeit im Sein folgt die Mühelosigkeit beim Musizieren. Dieser Flow-Zustand zeigt sich auch in der Zen-Meditation. Beim Bogenschießen in Zen-Meditation übt man die Absichtslosigkeit. Man muss dabei die gelernte Technik und die Absicht, alles perfekt durchführen zu wollen, loslassen. Es geschieht von alleine.
Willst du die rechte Wachsamkeit aufrechterhalten, dann darf dein Geist weder zu angespannt noch zu entspannt sein, genauso wie die Saiten der Vina. (Kalu Rinpoche)
Ganzheitliche Musikpädagogik integriert Körper, Atem und Geist
Musizieren ist eine Spiritualität im ganzheitlichen Sinne, bei der Körper, Atem und Geist integriert sind. Die Musikpädagogik im 21. Jahrhundert benötigt einen Paradigmenwechsel in Didaktik und Methode. Der Advaita-Vedanta bezeichnet den Kernpunkt des Yoga aus Nicht-Zweiheit, sondern Einheit. Die westliche Philosophie hat eine lange Tradition, die von einem Dualismus von Geist und Körper ausgeht. Mittlerweile gilt der Körper-Geist-Dualismus philosophisch und auch neurowissenschaftlich schon längst als überholt. Es besteht kein Zweifel, dass mentale Vorgänge Körperzustände beeinflussen und umgekehrt. Es gibt inzwischen genug Bücher und Forschungsergebnisse über interdisziplinäre Ansätze. Die Musikerkrankheit hat ihre Ursachen in der Trennung von Körper und Geist. Beide sind eine Einheit. Es ist Zeit, von einer leistungsbetonten zu einer ganzheitlichen Musikerziehung umzudenken. Die Atemschulung soll allgemein in die Musikpädagogik integriert werden. Dieser integrative Ansatz hat dann eine Zukunft, früh genug eine präventive Maßnahme in der Musikerziehung zu integrieren und zu entwickeln. Entsprechende Angebote sollten in der Ausbildung bereitgestellt werden.
Körper und Frieden
Ruhe und Frieden sind keine abstrakten Begriffe, sondern erfahrbar im Körper. Dies findet primär im Körper statt, denn im gesunden, entspannten Körper wohnt auch der gesunde, gelassene Geist. Sehr oft wird diese essenzielle, untrennbare Beziehung zwischen Körper und Geist übersehen oder ignoriert. Regelmäßige Präventionsmaßnahmen kultivieren bedeutet, die liebende Güte mit sich selbst zu üben. Die Musiker brauchen einen friedlichen, durchlässigen Körper, um alle physischen und geistigen Möglichkeiten ausschöpfen zu können, um die Musik lebendig, kraftvoll und energiegeladen auszudrücken. In dem Moment musiziert nicht der kleine Teil von mir, sondern das große Ganze in mir. Panta rhei, alles fließt. (Heraklit)
Die Autorin dieses Artikels, Kyung-Ran Kim, ist Yogalehrerin BDY/EYU und mit dem Atemyoga zertifiziert. Sie gründete „Yoga für Musiker“ in Deutschland und hält Workshops und Gastkurse für Berufsmusiker und Sänger. www.akademie-fuer-musikergesundheit.de