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Audiation – die musikalische Kernkompetenz

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Ein musikalisches Verständnis, das losgelöst von jeglicher Musiktheorie funktioniert
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Auf der einen Seite ist Audiation ein wenig wie das Ei des Kolumbus: Kann man audiieren, ist es das Selbstverständlichste beim Musizieren überhaupt. Man muss nichts beachten und nicht darüber (kognitiv) nachdenken. Es funktioniert einfach und problemlos. Kann man hingegen nicht bzw. nur sehr rudimentär audiieren, scheint das, was andere Musiker mit Hilfe ihrer Audiation leisten können, unerreichbar, unmöglich und manchmal sogar fast ein wenig wie Zauberei.

Auf der anderen Seite ist Audiation aber leider nicht so leicht zu erlernen, wie der Trick mit dem Ei. Dies führt besonders im pädagogischen Kontext oft zu Problemen: Ein audiierender Lehrer geht durch diese Selbstverständlichkeit intuitiv davon aus, dass die Audiation seines Schülers sich genauso spontan entwickeln wird wie seine eigene. Ein Lehrer ohne ausgebildete Audiation setzt dahingegen meist unbewusst voraus, dass es sich bei Audiation um ein angeborenes Talent handelt (was auch stimmt), auf dessen Entwicklung er keinen oder nur wenig Einfluss hat (was nicht stimmt). Denn Audiation lässt sich unter Beachtung gewisser Lernprinzipien sehr gut entwickeln und fördern. Leider ist es aber so, dass bestimmte Dinge die Audiationsentwicklung einschränken oder sogar blockieren können, wie etwa eine starke Inanspruchnahme des visuell-kognitiven Lernkanals – gerade im Anfangsunterricht. Deswegen ist es sehr nützlich und wertvoll, wenn man als Musikpädagoge über Prinzipien und Stolpersteine der Audiationsentwicklung möglichst genau Bescheid weiß.

Was also ist Audiation? Sie ist gleichzusetzen mit musikalischem Verständnis. Einem musikalischen Verständnis, das allerdings losgelöst von jeglicher Musiktheorie funktioniert. Dies bedeutet nicht, dass keine Musiktheorie benutzt werden kann oder sollte, sondern, dass Musiktheorie benutzt wird, wenn es den Lernprozess unterstützt. Als der amerikanische Musikpädagoge und Musikpsychologe Edwin E. Gordon den Begriff Audiation prägte, legte er großen Wert darauf, dass Audiation das Verstehen stets mit einschließt. Denn nur weil man Musik im Kopf hört – wie zum Beispiel bei einem Ohrwurm – findet nicht zwangsläufig ein Verstehen, also Audiation statt. Ansonsten bräuchte man Audiation nicht von Begriffen wie „inneres Hören“ oder „Klangvorstellung“ abzugrenzen, die den Prozess des Verstehens nicht zwingend mit einschließen.

Folgende Sprachanalogie veranschaulicht die Relevanz von Verständnis und ihre Auswirkungen besonders gut. Situation 1: Ich trage ein Gedicht in einer Sprache vor, die ich nicht verstehe. Situation 2: Ich trage ein Gedicht in meiner Muttersprache vor. Wirkt sich das (fehlende) Verständnis auf die Interpretation, die Lerngeschwindigkeit, die Lernmotivation oder das Erinnerungsvermögen aus? Wenn ja, wie? Einen ähnlich starken Einfluss hat (fehlende) Audiation im musikalischen Kontext.

Doch was genau bedeutet musikalisches Verständnis überhaupt? Hier rückt der musikalische Kontext in den Fokus. Denn noch genauer könnte man Audiation als kontextbezogenes Musikverständnis beschreiben. Musikalisch gesehen gibt es verschiedenste Kontexte wie etwa das tonale Zentrum, die Tonart oder das Metrum. Kann ich also aus der Musik, die mein Gehirn verarbeitet, den Kontext erschließen, verstehe/audiiere ich sie. Wie beim Sprachverständnis gibt es auch hier unendlich viele Abstufungen, so kann man beispielsweise in der Lage sein, das tonale Zentrum zu audiieren, aber nicht das Metrum.

Ganz praktisch lässt sich das Kontext(un)verständnis an folgendem Beispiel veranschaulichen:
Wird in den vier obigen Takten allein der Ton f gespielt, klingen alle Takte gleich. Erst durch die Verbindung mit dem harmonischen Kontext durch die Akkorde erschließt sich die wahre musikalische Bedeutung (oder auch Funktion) des Tons. Er klingt plötzlich anders. Genau diese Verbindung von Ton und Kontext ist es, die unser Gehirn mittels Audiation auf vielfältigen Ebenen herstellt und das sowohl vertikal als auch horizontal. Dabei bietet die Audiation weit mehr als nur einen Unterschied zu erkennen. Der Schüler audiiert etwa wie genau das f zu den verschiedenen Akkorden intoniert werden muss und kann es so auf dem Instrument selbstständig anpassen.

Im musikpädagogischen Diskurs fristet Audiation leider noch immer ein Schattendasein. Ist dies auf Grund ihrer Bedeutung für das Musizieren nicht verwunderlich? Vielleicht hängt es damit zusammen, dass Audiation sich bei passenden Umständen auch spontan entwickeln kann. Doch erstens hat leider nicht jeder ein solch hohes musikalisches Lernpotenzial, dass ihm das auch gelingen mag und zweitens könnten mit einer Herangehensweise, die Audiation berücksichtigt und fördert, diejenigen mit hohem musikalischen Lernpotenzial zielgerichtet gefördert werden, um so ihr Potenzial noch weiter ausschöpfen zu können. Gordon hat dazu einen enormen Beitrag geleistet, indem er über Jahrzehnte mit wissenschaftlichen Methoden und viel Unterstützung erforschte, wie sich Audiation bestmöglich entwickeln lässt. Auf Basis dieser Erkenntnisse stellte er unter anderem eine Reihe von Lernprinzipien zusammen, die das Erlernen der Audiation unterstützen und veröffentlichte sie im Rahmen seiner Theorie des Musiklernens (Music Learning Theory). Diese Prinzipien stehen uns glücklicherweise zur Verfügung, um unsere musikpädagogische Praxis hinsichtlich Audiation weiter und weiter optimieren zu können.

Warum diese Prinzipien bisher weder in musikpädagogischen Lehrwerken noch in der musikpädagogischen Ausbildung entsprechende Berücksichtigung finden, ist mir ein Rätsel. Die Entwicklung der Audiation wird eher dem Zufall überlassen; und das, obwohl eine gut ausgebildete Audiation alle anderen musikalischen Lernprozesse immens unterstützt und beschleunigt – sei es in den Bereichen Notenlesen, Interpretation, Phrasierung, Instrumentaltechnik, Auswendigspiel, Improvisation, Repertoirespiel oder Musiktheorie, um nur einige zu nennen.

Mir als Musiker und Pädagoge helfen Gordons Erkenntnisse dabei, mich und meine Schüler effizienter bei der Entwicklung der Audiation zu unterstützen. Schlussendlich führt dies sowohl zu mehr Freude und Leichtigkeit beim Musizieren als auch beim Unterrichten, was ein großer Gewinn ist.
Weiterführende Informationen sowie Fortbildungen zum Thema Audiation und den Lernprinzipien finden sich bei der Edwin E. Gordon Gesellschaft Deutschland e.V. oder auch der Bundesakademie für musikalische Jugendbildung Trossingen.

 

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