Die Geheimnisse des Tarots faszinieren den Komponisten Wilfried Hiller und eröffnen ihm überraschende und erstaunliche Beziehungen, etwa dass das Klavier 88 Tasten und der Sternenhimmel 88 Sternbilder hat. „Die Welt ist voll solcher Verknüpfungen. Das ist doch fantastisch,“ sagte er in einem Interview. Diese Faszination der Tarotkarten teilt er mit Michael Ende, seinem wichtigsten Librettisten, und mit Carl Orff, seinem Lehrer und Mentor. Wenn die Legende des französischen Mystikers Papus stimmt, entstand der Tarot im Alten Ägypten und überliefert jahrtausendaltes Wissen. In Hillers Werk geht es häufig um „Expeditionen“, wie es die Rundfunkjournalistin Ursula Adamski-Störmer nannte, in ferne Zeiten, um musikalische Ausgrabungen tiefer Bewusstseinsschichten. Sein zentrales Lebensthema ist die magische Kraft der Fantasie. Er schuf Werke, die ebenso Kinder wie Erwachsene in ihren Bann ziehen, darunter so erfolgreiche Musiktheaterbestseller wie „Der Goggolori“ oder „Das Traumfresserchen“.
Wilfried Hiller stammt aus Weißenhorn nahe Ulm. Von seiner Herkunft nahm er die schwäbische Sturheit mit, die ihm half, seinen Weg trotz aller Widerstände zu gehen. Aus der herrschenden Musikästhetik, wie er sie 1962 bei den Darmstädter Ferienkursen kennenlernte, brach er aus, beschäftigte sich trotz der Häme mancher Kollegen lieber mit bayerischer Volksmusik als mit Zwölftonreihen. Carl Orff mit „seiner unstillbaren Neugier auf alles, was außerhalb Deutschlands und Europas an Musikkulturen existierte,“ prägte seine Offenheit für alle Musik, vom Jazz bis zur japanischen Tempelmusik. Die Überwindung von Grenzen, seien es unterschiedliche Kulturen, seien es verschiedene Musikstile, ist bis heute Hillers wichtiger Beitrag zum Musikleben. Er lädt sein Publikum ein, neue Horizonte durch Hören und Sehen zu entdecken. Dies gelang ihm nicht nur als Komponist, sondern ebenso als Rundfunkredakteur und bei den legendären Musiknächten, die in den 1980er und 1990er Jahren das Münchner Publikum begeisterten.
Hillers Erfolge an fast allen Fronten des Musiklebens – er war nicht nur Musikredakteur, sondern auch Hochschullehrer, Präsident des Bayerischen Musikrates, Künstlerischer Leiter der Internationalen Orgelwoche Nürnberg und ist bis heute Vorstandsvorsitzender der Carl-Orff-Stiftung – waren nur möglich, da er in seiner allzu früh verstorbenen Frau, der Schauspielerin Elisabet Woska, eine unermüdliche Mitstreiterin hatte, die ihm als Dramaturgin, Kritikerin, Öffentlichkeitsarbeiterin, Organisatorin, Ausstellungsmacherin half, seine künstlerischen Ideen zu verwirklichen. Er nannte sie deshalb seine „Miterfinderin“ und manche sahen die beiden als die Christos von München.
Für Hiller ist das weibliche Geschlecht „die schönste Erfindung, die es gibt,“ wie er einmal sagte. „Ob in Fleisch und Blut, in Bronze, Marmor – die Frau symbolisiert für mich das Schöpferische.“ In „Schulamibt (Lieder und Tänze der Liebe)“ vertonte er das Hohelied aus dem Alten Testament voller Sinnlichkeit und mit archaischer Direktheit.
Wilfried Hiller entführt sein Publikum in die Regionen der Fantasie und Imagination. Seine Musik erklingt gleichermaßen für junge und jung gebliebene Menschen. Dass er noch immer staunen und neugierig sein kann, zeigt, dass er auch selbst jung geblieben ist. Kaum zu glauben: Er feierte am 15. März seinen 80. Geburtstag, zu dem ihm die Musikwelt alles erdenklich Gute wünscht.
Die Zitate stammen aus: Ursula Adamski-Störmer: „Alles, was ich schreibe, ist letzten Endes eine Liebeserklärung an das weibliche Geschlecht“, Gespräch mit Wilfried Hiller, in: Theresa Kalin, Franzpeter Messmer (Hrsg): „Wilfried Hiller“, Komponisten in Bayern, Bd. 56, Tutzing 2014, S. 13–22.