München. Mit räumlicher, nicht aber mit menschlicher Distanz erleben wir Buchpräsentation und Konzert am 3. Juli 2020 im Künstlerhaus anlässlich des 70. Geburtstags von Enjott Schneider: Denn diese Musik verbindet, was zuvor unvereinbar wirkte. Schneider ist ein Stilchamäleon, ein Welten- und ein Epochenbummler, kontinuierlich auf der Suche und ungebrochen in seiner Neugier. Bekannt wurde er durch seine Filmmusiken, mit denen er ein Millionenpublikum erreichte, doch deckt dies nur einen kleinen Teil seines umfangreichen Schaffens ab, aus dessen unermesslichem Fundus wir heute fünf Werke hören. Gerade erschien im Allitera-Verlag eine Würdigung von Schneiders Person und seiner Musik in Buchformat, gefüllt mit tiefschürfenden, absolut lesenswerten Artikeln. Als nunmehr 66. Band der Reihe „Komponisten in Bayern“ wurde das Buch von Theresa Henkel und Franzpeter Messmer herausgegeben; letzterer stellt heute den Band und seine einzelnen Beiträge in einer munteren Übersicht vor.
Geeint werden alle Werke Enjott Schneiders durch eine stilunabhängige Ästhetik der Schönheit; sie verzaubern, berühren und in den dramatischen Momenten ergreifen sie, ohne dabei zu schockieren oder gar zu entrücken. Als frappierende Beispiele dessen gelten die heute erklingenden „Please, I can’t breathe“ nach Worten des am Tag von Schneiders 70. Geburtstag ermordeten George Floyd und „Requiem pour Erik Satie“ für die ungewöhnliche Konstellation Congas und Klavier. „Please, I can’t breathe“ entspringt einer düsteren Stimmung, die Folter und Tod des Polizeigewaltopfers illustriert, doch verfolgt das Werk die Geschichte mit äußerlich gewisser Nüchternheit frei von verzerrten Klängen oder brachialen Klanglawinen. Der Gesang erstirbt im Lauf des Stücks und ein Gong nimmt seinen Platz ein, so entsteht eine bedrückende wie packende Atmosphäre. Im „Requiem pour Erik Satie“ kommt dafür eine Spielfreude auf, wie man sie bei keinem Werk dieser Gattung je vermutet hätte: Stefan Blum darf sich mit Witz und Charme auf seinen vier Congas austoben, holt dabei eine Vielzahl unterschiedlichster Klangnuancen aus den Trommeln heraus und geht aufmerksam auf seine Mitstreiterin ein. Die Pianistin Jelena Stojkovics beweist hier rhythmische Präsenz und besticht besonders durch ein minutiös ausgeschliffenes Pianissimo in feinsten Dynamikabstufungen. In „Willst eine Welt Du schaun …“ darf sie dann auch ihr Gespür für Melodie präsentieren, indem sie die Tasten zum Singen bringt und sich klanglich mit Stefan Schneider an der Klarinette mischt. Diese fünf „Mandalas“, wie der Komponist sie untertitelte, berühren die Hörer auf zarteste und sanftmütigste Weise, behalten selbst im rhythmisch aufbegehrenden Mittelsatz innige Freundlichkeit; erst im vierten Satz zieht ein finsterer Schleier auf, der sich jedoch im Finale schnell zu einem versöhnlichen Ende lichtet. Schneider gelingt eine bewusste Klanggestaltung mit offen-ehrlichem Ton, der unter die Haut geht. Das Instrument avanciert zur erweiterten menschlichen Stimme.
Umrandet wird das Konzert von „Dreamin’ Backwards to my former times mistress“ für Renaissance-Flöte und von „Robert Schumanns Traumreise“, in dem (ebenso wie in „Please, I can’t breathe“) alle Musiker zusammen auftreten. Im Eröffnungsstück nutzt die Flötistin Stefanie Pritzlaff die erwartungsvolle Stille und fesselt uns vom ersten Ton an mit diesem Stück, das die Resonanz des Raumes braucht und wohl nur bei so vergleichsweise geringer Bestuhlung funktioniert – dafür setzt es die Luft im Saal spürbar in Wallung. Pritzlaff schwingt mit ihrem Ton, denkt in großen Bögen und kann so das Stück formal zusammenhalten, was für ein Solomelodieinstrument bekanntlich eine besondere Herausforderung darstellt.
In „Robert Schumanns Traumreise“ wandeln wir zwischen alt und neu: Die Integration von Schumanns Stilwelt in heutige Klangsphären artet in Perfektion aus, so dass man kaum aktiv wahrnimmt, wo Schumann endet und wo Schneider beginnt – die Übergänge zerfließen ineinander. Der Bassbariton Christian Maria Schmidt leitet durch die dem Kerner-Liederzyklus entlehnten Sätze, reißt mit durch effektlosen, unprätentiösen, dafür jenseits der Oberfläche umso involvierteren Gesang. Bis zum letzten Moment halten die Musiker höchste Intensität und hinterlassen eine Stille, die Raum lässt für eigene Reflexion.