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Grenzenlos Suzuki

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Das Projekt „SUZUKI™ Lesson Link Up“ zum Weltmusiktag
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Über fremde Länder hinweg in der gemeinsamen Ur-Sprache Musik verbunden zu sein, ist kein neuer Gedanke, doch kaum ein Lehrmodell lebt diesen mehr als die Suzuki-Philosophie. Weil die Corona-Pandemie und Distanzgebote daran wenig ändern sollen, veranstaltete die European Suzuki Associa­tion (ESA) zum Weltmusiktag am 21. Juni 2020 ein Online-Projekt der internationalen Begegnung.

Auf dem Bildschirm erscheinen zwei Fenster: Die elfjährige Chris­tina ist aus Spanien zugeschaltet und sieht erwartungsvoll und etwas schüchtern in die Kamera – die Violine schon bereit in den Händen. Ihre heutige Lehrerin Paloma López Alonso trifft sie zum ersten Mal. Sie sitzt einige hundert Kilometer entfernt an einem Tisch in München. Die Internetverbindung ist stabil, die gemeinsame Sprache Spanisch. Dann trägt Christina den dritten Satz aus dem Concerto op. 12 von Friedrich Seitz vor. Das Stück steht im vierten Suzuki-Lern-Heft: Christina spielt also schon vier Jahre Geige. Die Töne sind sauber, der Notentext auswendig gelernt und sicher vorgetragen. Dafür gibt es erst einmal Lob von Paloma López Alonso. Lob ist für die Pädagogin sehr wichtig, gerade in einer Masterclass, wenn man nur wenig Zeit hat, sich kennenzulernen. So fasse das Kind in der Stunde Vertrauen und kann sich auf den Lehrer einlassen.

Motivierend und lebendig vermittelt Paloma López Alonso Übungen zur Haltung, Technik und Interpretation. So hüpft der Frosch, also der untere Teil des Bogens, auf Christinas Schulter, Kopf und sogar die Nase. Auch grundlegende technische Übungen wie eine Vibrato-Übung gibt die Austauschlehrerin Christina mit. Ganz besonders wichtig ist ihr, dass sie diese technischen Aspekte mit der Gestaltung des Stückes verknüpft: Sie solle sich vorstellen sie sei „en una fiesta“, auf einer Hochzeit, bei der ein Sektkorken knallt. Wie sie das dank geschickter Bogeneinteilung bewerkstelligen kann, macht die Lehrerin erst vor.

Auch digital ist López Alonso mit dem Präsentationsprogramm miro gut aufgestellt, bei dem sie die Noten auf dem Bildschirm teilen und die besprochenen Stellen markieren kann. Eine zusätzliche Kamera gibt Nahaufnahmen der Fingerhaltung wieder.

Für den langsamen piano-Teil greift sie auf das schon erlernte Suzuki-Repertoire zurück. „Twinkle, twinkle, little Star“ ist ein Lied, das man als Suzuki-Schüler im ersten Heft lernt und das die Schülerin nun ganz leise spielen soll.

Und siehe da, am Ende der Stunde kommt Christina aus sich heraus: Ihr Seitz Concerto hat an Fiesta-Laune und Charakter gewonnen.

So weit, so gut. Doch wie viel Suzuki steckt nun in dieser Stunde? López Alonso erklärt im Gespräch, was dahinter stehe: Für sie sei vor sieben Jahren nach dem Geigen-Studium in Wien und Graz die Frage aufgekommen, wie sie vor allem sehr junge Kinder unterrichten könne. Daraufhin absolvierte sie die fünfjährige Ausbildung zur Suzuki-Lehrerin, da sie von der Idee angetan gewesen war, Musik wie eine Sprache zu erlernen. So fange das Kind an, die Dinge auf der Geige wie bei einzelnen Sprachlauten intuitiv nachzuahmen, um später im Schulalter das Lesen der Noten zu erlernen. „Es ist aber mehr als eine Methode, es ist die Philosophie, dass alle Kinder in einer richtigen Umgebung Geige lernen können“, meint López Alonso. Das Buch Shinichi Suzukis „Erziehung ist Liebe“ habe sie für die Methode begeistert. Auch die Einbeziehung der Eltern und der Wechsel zwischen Einzel- und Gruppenunterricht sei eine Eigenart und erst durch das gemeinsame Repertoire möglich. Das Gemeinschaftsgefühl motiviere und stifte die Schüler zur Ernsthaftigkeit an.

Die kollektive Begeisterung für ein und dieselbe Idee ist es auch, warum solche Projekte überhaupt zustande kommen können. So war es für den Initiator des Projekts „Lesson Link Up“ und Vorstand der Istituto Suzuki Italiano (ISI) Marco Messina ein Leichtes, Schüler und Lehrer über die Plattform der European Suzuki Association zu erreichen und für das Projekt zu gewinnen: „Menschen zu verbinden, ist zum einen Bestandteil der Suzuki-Methode, zum anderen resultiert es daraus [...]“.Messina ist selbst erfahrener Suzuki-Lehrer im Fach Querflöte und davon überzeugt, somit seinen Schülern alles bieten zu können. Initiativen für Workshops hat er schon einige ergriffen. Das funktioniere eben sehr gut über die ESA, denn es ist „einfacher, Leute zu verbinden, die dieselbe Idee vereint, und gleichzeitig eine wunderbare Sache. [...] Das Kind aus Polen konnte so mit einem Lehrer aus Norwegen eine besondere Unterrichtstunde erfahren, genauso wie der spanische Lehrer mit einem Kind aus Südafrika.“ Die ESA reicht also sogar bis nach Südafrika und dem Nahen Osten.

Bei „Lesson Link Up“ wissen die Lehrer nicht, welchen Schülern sie zugeteilt werden und umgekehrt – etwas, was wohl auch nur über ein Online-Projekt möglich ist. Auf diese Idee wäre Marco Messina nicht gekommen, wenn es die Corona-Krise nicht gegeben hätte. Doch hinsichtlich dem Wunsch für einen internationalen Austausch sei sie so einleuchtend und einfach, dass er sich gefragt habe: „Warum bin ich da nicht schon vorher draufgekommen?“.

Eine komplette Ersatzlösung für die üblichen Suzuki-Treffen sei es allerdings nicht, da spricht Marco Messina für viele Musiklehrer nachvollziehbare Worte: „Die Fortführung dieses Notstandes und ein Leben für Musiker, das Konzertwesen und Musiklehrer, die sich nicht im Theater, oder in der Schule [...] treffen können, ist für mich unvorstellbar. Ich weigere mich darüber nachzudenken. [...]“
Dennoch habe die Etablierung der digitalen Möglichkeiten im Unterricht auch Vorteile gebracht – so würde Messina solche Projekte gerne fortführen. Die Infrastruktur ist ja nun gegeben, da sich die meisten Musiklehrer in der Corona-Zeit technisch ausgerüstet haben, wie eben Paloma López Alonso. Dass sie eine spanischsprechende Schülerin bekam, war nach dem Konzept des Projektes also Zufall. Doch wie sieht es bei anderen länderübergreifenden Unterrichtsstunden aus?

Direkt im Anschluss ist die Klavierlehrerin Maxi de Buhr-Möllmann an ihrem Flügel in München dem neunjährigen Fabrizio aus Italien zugeschalten. Auch er sieht etwas schüchtern durch seine Brille mit großen runden Gläsern in die Kamera. Vor ihm liegt das E-Piano auf dem breiten Esstisch. Ein Geschwisterchen läuft einmal mit einer Violine in der Hand durch den Hintergrund, in dem viele Kunstgemälde an der Wand hängen. Fabrizios Mutter ist in der Nähe und hilft bei technischen und sprachlichen Barrieren, wobei es eher technische Barrieren sind, denn Fabrizio geht auf eine internationale Schule und spricht ein erstaunlich gutes Englisch. Kleine Hänger bei der Verbindung sind nicht nur im innerdeutschen Netz ein gängiges Phänomen, so ist auch Fabrizios Vortrag von Mozarts Arietta aus dem zweiten Suzuki-Buch nicht ganz davor gefeit. Solche Probleme sind erwartbar, aber schrecken Buhr-Möllmann keineswegs ab. Für sie „steht der übergeordnete Aspekt bei diesem Projekt im Vordergrund. Es ist ein Abenteuer für alle, nachdem gerade in Italien und Spanien gar nichts mehr möglich war“, und genau deswegen habe die Klavierpädagogin sofort bei der Initiative mitmachen wollen. Sie hält nun seit über fünfzehn Jahren überzeugt an der Suzuki-Methode fest. Freundlich und aufmunternd arbeitet sie mit ihrem unbekannten Schüler am Wahrnehmen und Austarieren der verschiedenen Stimmen und der Harmonie. Gegen Temposchwankungen kommt ein weiteres Gerät ins Spiel: Fabrizio zeigt nun seine digitale Kompetenzen beim Einstellen des Metronoms in einer Handy-App. Doch dann taucht unerwartet eine kleine Holzschildkröte – die „tartaruga“ vor der Linse auf: Das Eis scheint nun gebrochen, auf Fabrizios Gesicht strahlt ein großes Lachen. Langsam soll er das Stück spielen, wie die „tartaruga“ eben. Ob er es gut gemacht hat, sagt ein frohes oder trauriges Gesicht auf einem Tischtennisball. Und zu guter Letzt lernt er noch ein „german song“, nämlich „Alle meine Entchen“ mit Akkordbegleitung durch Vor-und Nachspielen – für den erfahrenen Suzuki-Schüler natürlich eine gängige Übung und somit in Windeseile erlernt.

Wenn auch die gemeinsame Überzeugung durch die Methode diese Veranstaltung prägt, gestaltet jeder Suzuki-Lehrer seinen Unterricht anders und hat dazu auch die Freiheit – seien es eigene Übungen, technische Ausstattungen, emotionale Vermittlungsfähigkeit oder eben eine „tartaruga“.
Das gemeinsame Erlebnis, das man trotz Distanz erfahren hat und das gegenseitige Vertrauen in das Fremde, das man über die Gemeinsamkeit Suzuki gewonnen hat, sollen auch nach Corona weiterwirken. Der Initiator von „Lesson Link Up“ Marco Messina hält all dies vom Digitalen ins Analoge übertragbar, denn „man hat ein positives Erlebnis und vielleicht den ersten Kontakt einer Freundschaft, die anhält bis sich Lehrer und Schüler live auf Workshops treffen können.“

 

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