Gemeinsam mit der Deutschen Bischofskonferenz und der Evangelischen Kirche in Deutschland hat der Deutsche Musikrat (DMR) das Projekt „Orgelmusik in Zeiten von Corona“ nun der Öffentlichkeit vorgestellt. Im Rahmen des Projekts entstanden 17 Kompositionen für Orgel, die die Corona-Zeit künstlerisch reflektieren. Zum einen ist das Projekt ein Beitrag zum Jahr der Orgel 2021, zum anderen erhofft man sich davon eine Wiederbelebung der Musik ebenso wie die Zuhörenden zu einer Auseinandersetzung mit ihren Pandemie-Erfahrungen anzuregen. Im Herbst 2021 werden die Orgelwerke in zahlreichen Konzerten und Gottesdiensten erklingen. Den Abschluss des Projekts bildet ein Finissage-Konzert am 21. November 2021, bei der alle 17 Kompositionen gemeinsam zur Aufführung kommen. Das Projekt wird durch die Bundesbeauftragte für Kultur und Medien gefördert.
Orgelmusik in Zeiten von Corona“ ist ein Mitmachprojekt! Die 17 Kompositionen erscheinen in einem Sammelband im Carus-Verlag. In Deutschland tätige Organistinnen und Organisten können eine Online- oder Printausgabe des Orgelbuchs kostenfrei über den Deutschen Musikrat beziehen, wenn sie innerhalb des Projekts „Orgelmusik in Zeiten von Corona“ im Herbst 2021 in einem Konzert oder Gottesdienst Stücke aus dem Orgelbuch aufführen (https://www.orgel-corona.de/mitmachen).
Die neue musikzeitung sprach mit dem Münchner Komponisten Enjott Schneider über das Projekt und seinen Beitrag „Nach der Apokalyptik – Toccata & Vision“.
neue musikzeitung: Sie haben sich mit dem Werk „Nach der Apokalyptik – Toccata & Vision“ an dem Projekt „Orgelmusik in Zeiten von Corona“ beteiligt. War das ein Auftragswerk oder veranlasste Sie das allgemeine Lockdownszenario seit März 2020 unabhängig von kirchlichen und weltlichen Auftraggebern, die Pandemie künstlerisch zu reflektieren?
Enjott Schneider: Zunächst freue ich mich, dass der Deutsche Musikrat und die Kirchen sich zu dieser besonderen Art einer Kulturförderung entschieden haben – es war ja monatelang doch ein gewisses Ödland! Der Impuls zu diesem Orgelwerk kam durch den speziellen Auftrag. Ich habe jedoch die ganzen 17 Monate kompositorisch den mit der Corona-Pandemie verwobenen Zeitgeist einzufangen versucht. Da gab es zum Beispiel schon im Februar 2020 das „symphonic poem WUHAN 2020“ vom Beijing Symphony Orchestra, dessen auf den 6.März angesetzte Premiere dann auf den 14.August 2020 verschoben wurde. Noch im März 2020 begannen mit der Universität Heidelberg die Planungen für ein chorsinfonisches Monumentalwerk DIE SINTFLUT in original altbabylonischer Sprache gesungen, wozu mir der renommierte Assyrologe Stefan Maul das Libretto nach Keilschrifttafeln machte. Schon vor 8000 Jahren wurden „Flut“ und „Auslöschung der Menschheit“ thematisiert. Aber im Höchsteigentlichen veranlasste Covid-19, mich dem Thema „Stille und Schweigen“ hinzuwenden: Im August 2020 schrieb ich nach Pablo Nerudas Gedicht „CALLARSE – STILL SEIN“ ein Klavierquintett, das (stets Lockdownhalber verschoben) jetzt erst am 1.August 2021 mit BR Klassik Premiere hatte. Im September 2020 wurden außerdem meine sechs „SILENT PRELUDES – About insects & the microbiotic world“ für Orgel und Sounddesign uraufgeführt. Und vor drei Monaten erschien meine jüngste CD „MOMENTS OF SILENCE“, die mit dem leisen Hackbrett im Zentrum ganz der Stille und Einkehr nach Innen gewidmet ist. In „Stille“ intuitiv zu ergründen, was die Pandemie uns sagen will – das ist die Aufgabe der Stunde!
nmz: In dem Text von Dr. Anna Schürmer über ihren Beitrag zu dem Kompositionsprojekt des DMR entsteht der Eindruck, dass Sie einen doch recht optimistischen Blick auf die Lage wagen – Die Utopie eines besseren Morgen lässt Schneider mit dem „Wasser des Lebens“ metaphorisch zu Klang kommen: ruhig und bedächtig lösen sich Ängste und Sorgen im Fluss der musikalischen Zeit auf und erblühen nach kurzem Zögern Harmonien in leuchtenden Farben... [AS]. Ist das Wunschdenken oder glauben Sie an ein gutes Ende?
Schneider: Als ein sehr in Asiens Musikleben beheimateter Komponist ist Ying&Yang, das rotierende Ablösen von schwarz-weiß bzw. gut-schlecht meine tiefe Gewissheit. Das Rad der Fortuna in unserer Kultur besagt dasselbe: Auf das Unten folgt nach kosmischem Gesetz ein Oben. Jede positive Weiterentwicklung kommt nur durch Leid und Schmerz. In Wohlstand und Saturiertheit überdenkt niemand seinen zweifelhaft gewordenen Weg, um eine sinnvollere Bahn einzuschlagen. Das gilt für Individuen wie für die Gesellschaft als Ganzes. Aus der Nacht wird das Licht kommen – eine Botschaft, die bei Beethovens Lebensprinzip wie beim Prinzip „Weihnachten“ überdeutlich tragend ist.
nmz: Die Orgel ist unter den vielen Musikinstrumenten, die uns zur Verfügung stehen, ein ganz besonderes Instrument, aber eben auch gebunden an einen speziellen Raum, Kirchen oder große Konzerthäuser. Ist das Projekt auch so etwas wie die Rückeroberung dieser Räume, und denken Sie, die Orgel könnte deshalb ein Instrument sein, das gut passt, um eine durch pandemische Zustände bedingte Verunsicherung aufzunehmen und zu transformieren?
Schneider: Ich war selbst auch Konzertorganist und habe aus dem Vertrauen in die Kraft dieser Königin der Instrumente zum Beispiel sechzehn großdimensionale Orgelsinfonien komponiert – speziell für Kathedralen. Wer in einen solch großen Raum geht, wird klein, demütig, bescheiden, erlebt etwas akustisch Erhabenes…und nimmt die Wichtigkeit seines Egos zurück.
nmz: Kommt Ihnen beim Komponieren für die Orgel zugute, dass die Orgel auch das Instrument ist, das sie spielen? Sie spielen auch andere, vielleicht gibt es da eines, das für diese Zeiten auch passen würde?
Schneider: Momentan faszinieren mich die leisen Klänge, wie Laute, Hackbrett, Harfe. Man wird dabei ganz Ohr, um in höchster Aufmerksamkeit den Klang, den Sound, aufzusaugen. Im Englischen bedeutet „sound“ soviel wie „gesund“ – dieses Heilende ist gerade angesagt!
nmz: Wie zuversichtlich sind Sie, dass das Finissagekonzert am 21.11.2021 tatsächlich mit Zuschauer:innen in einem Raum wird stattfinden können?
Schneider: Wenn wir in 18 Monaten nichts dazugelernt haben und schon wieder in einem Lockdown erstarren, dann sind wir irgendwie selber schuld. Ich bin aber Berufsoptimist.
nmz: Hochwasser, Brände, Viren in der Luft... Ist der Klimawandel generell ein Thema, das auch einen Komponisten beschäftigt? Und wenn ja, in welcher Grundstimmung – Dur oder Moll?
Schneider: Ja. Wasser, Bäume, Insektensterben, Natur und Erhalt der Schöpfung bilden den Grundtenor von über 30 – teils auch großen oratorischen – Kompositionen. Geben Sie die Stichworte gern in die Suchmaske meiner Webseite ein. Es wird rattern! Die Grundstimmung ist dabei sicher eine positive, aber die muss man sich über die Schleichwege via Emotionen wie Wut, Zorn und Dissonanz erarbeiten.
nmz: Wissen Sie schon, wo Ihr Werk „Nach der Apokalyptik – Toccata & Vision“ überall zu hören sein wird? Wo würden Sie es selbst gern hören?
Schneider: Mein Werk sehe ich eher in großen halligen Räumen, wo der Kontrast von wütender apokalyptischer Toccata und einer ganz der Stille und dem Geistigen gewidmete „Vision“ voll zum Tragen kommen.
nmz: Gab es im Rahmen des Projekts oder vielleicht auch unabhängig davon, gemeinsame künstlerische Auseinandersetzung unter den Komponistinnen und Komponisten zu »Corona«? War das auch ein Thema untereinander?
Schneider: Niemand von uns wurde über die angefragten Kolleginnen und Kollegen informiert, also konnten wir uns leider nie austauschen.
nmz: Noch einmal zu ihrem Beitrag und dem Titel „Nach der Apokalyptik – Toccata & Vision“. Können Sie sagen, was Sie beim Komponieren bewegt hat? Und wie es zu dem Werknamen kam? Toccata ist im Gegensatz zu Vision eine tradierte Stückbezeichnung...
Schneider: „Toccata“ ist etwas Hartes, Kämpferisches, Motorisches und Virtuos-Ego-Betontes. „Vision“ ist weich und versöhnlich, etwas Transpersonales – weit weg vom kämpferischen „Ich“. In Buddhismus und Daoismus ist Wasser ein Symbol des richtigen Weges, der führt von der harten Materie weg zum Immateriellen und Geistigen. Besitztum, Geld, Haben-Wollen waren die Ziele von gestern. Ich hoffe auf ein anderes „Heute“.
Interview: Stephanie Schiller
Enjott Schneider (*1950) studierte in Freiburg i.Br. (Dr. phil. 1977), lehrte 1979–2012 an der Münchner Musikhochschule. Acht abendfüllende Opern, acht Sinfonien, zahlreiche Werke der Orchester- und Kammermusik. Ein Schwerpunkt liegt in der geistlichen Musik mit oratorischen Werken, Orgelkonzerten und 13 Orgelsinfonien. Die internationalen Aufführungsorte reichen von Paris, Rom, Madrid, Athen, New York, Los Angeles bis Danzig, Krasnoyarsk, Moskau, Helsinki, Tokyio, Shanghai, Beijing, Taipei. Daneben entstanden auch etwa 600 Filmmusiken (u.a. zu Filmen wie „Schlafes Bruder“, „23“, „Herbstmilch“, „Stalingrad“ oder „Stauffenberg“). Viele nationale und internationale Auszeichnungen und Ehrungen. Das Schaffen ist auf über hundert CDs dokumentiert. Von 2003–2020 Aufsichtsrat der GEMA (auch als Aufsichtsratsvorsitzender), von 2013–2020 auch Präsident des Deutschen Komponistenverbandes. Enjott Schneider ist Mitglied im DTKV.
www.enjott.com