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Komponierte Konzertprogramme

Untertitel
Sommerliche Musiktage Hitzacker unternehmen eine Reise durch den „Kosmos Streichquartett“
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Dass es beim Komponieren von Kammermusik darum gehe, dem Material „feinste Nuancen abzulauschen“, stellt Jörg Widmann in einem der Gespräche fest, die in dem kürzlich erschienenen Buch „Im Sog der Klänge“ (Mainz 2005) festgehalten sind. Spricht Widmann zunächst mit Blick auf das eigene Werk, so benennt er auch ein, wenn nicht das zentrale Charakteristikum der Kammermusik. Die Gattung, die diese Aufmerksamkeit für die feinsten Nuancen kompositorisch auf die Spitze treibt, das Streichquartett, hatten die 60. Sommerlichen Musiktage Hitzacker in den Mittelpunkt ihres Programms gestellt – passend zum Jubiläum eines Festivals, das seit seiner Gründung 1946 der Kammermusik verpflichtet war und ist. „Kosmos Streichquartett – Große Welt im Kleinen“ hieß das Thema des Festivals in dem niedersächsischen Elbstädtchen, dessen Programm seit 2002 der Hamburger Musikwissenschaftler Dr. Markus Fein gestaltet. Jörg Widmann, dessen zweites von bisher fünf Streichquartetten, das „Choral-Quartett“, 2003 in Hitzacker uraufgeführt worden war, war in diesem Jahr Composer in residence.

Große Welt im Kleinen“ – das ist ein Motto, das auch die Sommerlichen Musiktage Hitzacker selbst beschreibt. Seit vielen Jahren steht das Festival am Rande des heutigen, event-geprägten Musikbetriebs – was es durchaus sympathisch macht. „Gediegenheit“, der es um die „verantwortliche, präzise, um den Effekt unbekümmerte Wiedergabe“ geht, so hat Theodor W. Adorno in anderem Kontext eine Haltung beschrieben, die auch die Sommerlichen Musiktage geprägt hat. Nicht ohne hinzuzufügen, dass die „Kraft der Phantasie“, die „die Musik erst aufschließt“, Gefahr laufe, eben jener Gediegenheit zum Opfer zu fallen. Dass dies spätestens ab Mitte der 70er-Jahre auch bei den Sommerlichen Musiktagen geschah, wurde anhand der beiden Konzerte zum 60. Bestehen des Musikfestes deutlich. Neben anderen waren zwei frühere Festival-Leiter, die Cellisten Wolfgang Boettcher (1987 bis 1992) und Claus Kanngiesser (1993 bis 2001) zu hören; was immer, durchaus Positives, zu ihren Interpretationen gesagt werden könnte, verblasst angesichts eines recht populistischen Programms, das unter dem Titel „Kammermusikalisches Potpourri“ genau das bot und selbst einem Auftritt des TV-Adelsexperten Rolf Seelmann-Eggebert nicht entsagte. Zum Glück ein Ausrutscher.

Fruchtbare Ansätze zur Reflexion der Geschichte des Festivals fanden sich in den übrigen Konzerten. Einer der Fäden, anhand derer sie möglich wurde, begann im Eröffnungskonzert, das das Modern String Quartet aus München mit einer trotz einiger Probleme mit der Klangbalance zwischen Zuspielband und Ensemble formidablen Interpretation von Steve Reichs „Different Trains“ beschloss. Reichs Werk thematisiert die Shoah, die Sistierung der humanistischen Ideale, wie der Nationalsozialismus sie radikal vornahm. Darin war das Werk – für die, die das wissen wollten – auch Hinweis auf die Zeit der Barbarei, die der Gründung der Sommerlichen Musiktage unmittelbar vorausging und die das Festival in der Vergangenheit mit einer von Boettcher eingerichteten Reihe mit Musik verfemter Komponisten thematisiert hatte. Jörg Widmanns „Jagdquartett“, von dem das norwegische Vertavo Quartett (eines der wenigen rein weiblichen Ensembles in diesem Bereich) eine stupende Version spielte, zielt auf ein Ähnliches, ist aber in seiner Darstellung der Ausgrenzung eines Einzelnen wesentlich konkreter als die abstrahierende Weise, in der Reich die letztlich unfassbare Shoah treffend thematisiert. George Crumbs „Black Angels“ (hochkonzentrierte Subtilität prägte die Interpretation des Minguet Quartetts) setzte das Thema ebenfalls fort.

Die drei Werke gehörten auch zu denen, anhand derer das Festival die Gattung Streichquartett als „der Zeit voraus“, als ein „Laboratorium der Moderne“ (so ein Konzerttitel) präsentierte. Mehrfach gelang es in dezidierter Weise, Neues, Experimentelles und Rätselhaftes zu erschließen, das Kompositionen zur Zeit ihrer Entstehung innewohnte. So etwa durch das extreme Gespür für das Changieren der Farben, das das Auryn Quartett bei Debussys Streichquartett bewies, oder durch die leise-reflektierte Spielweise, mit der das Vogler Quartett die harmonischen Grenzgänge von Schuberts B-Dur-Quartett op. 112 deutlich werden ließ. Auch dem Vertavo Quartett gelang es mehrfach, irritierende Elemente der Musik der Vergangenheit als „von Jetztzeit erfüllte“ (Walter Benjamin) kenntlich zu machen. Etwa mit einer Interpretation von Bartóks viertem Quartett, das die Norwegerinnen im Licht von Ligetis Quartetten quasi spiegelten, ebenso mit einer, von einer schier aufstörenden Kultur des Piano geprägten, Aufführung von Schumanns Streichquartett As-Dur op. 41 Nr. 3.

Robert Schumann gehört sicher zu denen, die der Composer in residence der 60. Sommerlichen Musiktage mit dem Satz „die Tradition sitzt mir im Nacken“ meint: Zitate aus Stücken Schumanns verarbeitet Widmann im „Jagdquartett“ oder in der „Fieberphantasie“. Auch in anderen Werken ist der Bezug auf Gesten und Formen der Tradition immer wieder Fluchtpunkt: Entweder negativ, wie im ersten Streichquartett, dessen tastend-vergebliche, in einem tonalen Strohfeuer endenden Versuche, die Vergangenheit abzuschütteln, das Kuss Quartett feinfühlig realisierte. Oder positiv, wie im vierten Quartett, dem fast swingenden „Andante“, das im Titel den (auch fragenden) Bezug explizit macht; das Vogler Quartett spielte diesen pointiert heraus. Und immer wieder wird in Widmanns Musik eine gewisse Seelenverwandtschaft mit Schumann deutlich, etwa in der Begegnung von dessen „Gesängen der Frühe“ op. 133 mit Widmanns „Nachtstück“ und seinem surrealen „Arlechino Rabbioso für selbstspielende Jahrmarktorgel“, die das Festival unter dem Titel „Nachtgesänge“ in einem Konzert mit „komponiertem Programm“ zusammenbrachte. Auch Musik Messiaens, Kurtágs, Bergs und Bruchs wurden darin als Bezugspunkte Widmann’schen Schaffens kenntlich.

Einen ähnlichen Ansatz verfolgte die Reihe „Grenzgänge“, die in drei Veranstaltungen des Festivalprogramms Begegnungen des Streichquartetts mit anderen Kunstformen – Ballett, Literatur, Film – brachte. Solche Programme wie auch die durchdachte Dramaturgie des Festivals haben den Sommerlichen Musiktagen vermehrte Aufmerksamkeit und seit 2004, erstmals seit vielen Jahren, steigende Besucherzahlen verschafft. Aufbauen kann das Festival bei der Absicht, die „Kraft der Phantasie“ wieder in ihr Recht zu setzen, auf seiner eingangs erwähnten Randposition im Kulturbetrieb, auch wenn diese eher ungewollt bezogen wurde. Hat sie doch eine gewisse Intimität erhalten, eine Intimität, die Voraussetzungen für enge Kontakte zur Musik, unter den Gästen, unter den Musikern und zwischen beiden ist. Auf dieser Intimität bauen Projekte wie die Hörer-Akademie auf; sie ergänzt die Begegnungen mit der Musik im Konzert durch (musik-)historische und theoretische Hintergründe. Einen ähnlichen Ansatz verfolgt die Jugend-Akademie; zum vierten Mal waren in diesem Jahr rund 20 „Festival-Fellows“ im Alter von 13 bis 18 Jahren Stipendiaten der Sommerlichen Musiktage.

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