Homers Dichtungen, vor allem die Erzählungen über das abenteuerliche Leben des Odysseus, faszinieren seit ihrer Entstehung vor etwa 3.000 Jahren Künstler und Autoren. Warum das so ist, und worin diese Affinität besteht, wird mit der kürzlich im Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie aufgeführten „Odyssee“ von Thilo Thomas Krigar verdeutlicht.
Auch der Komponist und Cellist Krigar arbeitet bereits seit Jahren an dem Konzept, durch die unterschiedlichsten Sichtweisen und Interpretationen beziehungsweise Neuschöpfungen des literarischen Stoffs von großen Schriftstellern der letzten Jahrhunderte wie Ovid, Schiller, Shakespeare, Pavese, Tarozzi und Kazantzakis den Schlüssel zur Indentifikation des „Typus Odysseus“ zu finden. Bereits 1997 wurde die erste Fassung der „Odyssee“ in Tessaloniki im Rahmen der Cultural Capital of Europe mit Otto Sander und Angela Winkler als Sprecher uraufgeführt, hier leitete der Komponist selbst sein Ensemble „Pythagoras
Strings“.
Die Neufassung 2016, die jetzt zu erleben war, zeigte gerade in der Gegen-überstellung von Text und Musik auf, wie sich der tiefere Sinn des Werkes bereits durch den Kontrapunkt von Sprache (= Logik/Vernunft) und Musikdramaturgie (= Emotion/Empfindung) in mancher Hinsicht offenbart: Krigar spricht hier von der Diskrepanz zwischen „Logos“ und „Nomos“.
Mit der Erweiterung des Streichtrios durch Kontrabass sowie Schlagzeug plus Celesta werden die Klangmöglichkeiten kolossal erweitert, insbesondere für die dramaturgische, den Text untermalende Gestaltung.
Der beschriebene Superheld Odysseus erlebt in seiner zehnjährigen Reise Höhen und Tiefen, meistert durch Mut und Schlauheit, durch List und Tücke sowie durch permanente Kampfbereitschaft jede noch so bedrohliche Situation. Ist es nur der Traum des Odysseus, des Königs von Ithaka, so selbstbewusst jeden Konflikt anzugehen oder ist das der Traum jedes Menschen, so handeln und denken zu können und daher immer wieder ein Stoff für die Literatur? Dazu ein Abenteurer, scheinbar ohne Affären, der sich nach der Rückkehr zu seiner Penelope sehnt, die treu auf ihn wartet. Die Geschichte spiegelt im Grunde die Sehnsucht eines jeden Menschen nach Ruhm, Standhaftigkeit, Erfolg und Anerkennung wider, zeigt aber auch die Kehrseite der Medaille auf: manche heldenhafte Aktion führt direkt ins Chaos.
Initiator der Berliner Aufführung von Krigars Odyssee-Projekt war der bekannte Produzent im Musiktheaterbereich David Müller. Gut besetzt die Rollen der Sprecher mit Christian Brückner und Corinna Harfouch, deren Aufgaben (ob Zufall oder Absicht) sich in Erzähler und agierende Schauspielerin aufteilten und so in eine szenische Aufführung verwandelten. Mit voller Konzentration auf die Ausdruckstiefe der Klangformationen als auch auf die unterschiedlichen Stilelemente der Musik waren die Philharmoniker Raphael Haeger (Dirigent), Andreas Buschatz (Violine), Ignacy Miecznikowski (Viola), David Riniker (Violoncello), Janne Saksala (Kontrabass) sowie Lukas Böhm und Fredi Müller am Schlagzeug ein ideales Ensemble für diese Erstaufführung der „Odyssee“ in Thilo Thomas Krigars Bearbeitung.
Der Wechsel zwischen den Homer’-schen originalen Textteilen und den flankierenden Erzählungen der weiteren gezielt ausgewählten Autoren ließ das Publikum trotz der enormen Länge des Stückes in Spannung und lohnt, hier im Ablauf dargestellt zu werden:
- Bianca Tarozzi (geb. 1947) – Variazioni sul tema di Penelope
- Musikal. Bild 1: Odysseefahrt
- William Shakespeare: Rede des Odysseus
- Ovid (43 v. Chr–17 n. Chr.): Brief der Penelope an Odysseus
- Homer (7. Jh. v. Chr): Der Kyklop
- Musikal. Bild 2: Odysseus bei Polyphemos
- Homer: Die Freier
- Friedrich Schiller: Odysseus
- Homer: Aiolos
- Nikos Kazantzakis (1883–1957): Die vier Winde
- Cesare Pavese (1908–1950 ): Die Insel (Kalypso und Osysseus)
- Musik. Bild 4: Archipel Kalypso
- Homer: Kirke berät Osysseus
- Homer: Die Sirenen
- Palladas (um 300 n.Chr.): Odysseus und Kirke
- Musikal. Bild 6: Welt unter: Okeanus – Der Toten Opfer
- Homer: Weissagung des Teiresias
- Musikal. Bild 6: Welt unter –
- Prophezeiung – OdySeefahrt und Rückkehr
- Homer: Der Bogen des Odysseus
- Musikal. Bild 7: BogensSehneSucht
- Homer: Odysseus mordet die Freier
- Musikal. Bild 8: FreierMord
- Homer: Athene beendet den Kampf
- Homer: Penelope erkennt Odysseus
- Musikal. Bild 9: Wiederkennen – letzte OdySeefahrt
In seinen musikalischen Bildern lässt sich der Komponist Krigar durch die antiken Erzählungen inspirieren. Das Konzept der Sphärenharmonik, bei dem die Intervalle in bestimmten Zahlenverhältnissen zueinander stehen, gehört hierzu. Thilo Thomas Krigar erläutert: „In meinem kompositorischen Ansatz steht die Relation der Töne zueinander im Vordergrund und weniger die klangliche Substanz der Töne, die ich lieber den Interpreten anvertraue. Was zwischen den Tönen passiert, die Räume, die sich zwischen den Intervallen öffnen, das interessiert mich… Ich suche nach einer Idee, die einen starken Kern hat, aus dem sich die Musik entfaltet – sozusagen wie eine Blume, die aus einem Samen wächst.“ Das Prinzip „Autopoesis“ des Komponisten, aus dem sich für den Zuhörer nach längerem Einhören eine harmonische Logik erschließt, hatte Erfolg – das Publikum im ausverkauften Kammermusiksaal der Philharmonie bedankte sich bei Thilo Thomas Krigar mit nicht enden wollendem Applaus.