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Mangel trifft Mehrwert

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Das Corona-Paradox
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Die Musikbranche ist ein Geschäftsfeld im Gegenwind. Eben erst hatte der Formatwandel von analog zu digital den Verkauf von einzelnen Hörlizenzen in Form von Tonträgern in ein Leihgeschäft mit Pauschalzugängen zu Songdatenbanken verändert. In diesem Prozess verlor der identifizierbare Künstler zugunsten der Funktionalität des Konsums an Bedeutung. Vorläufige Rettung versprach das schwer digitalisierbare Live-Erlebnis als geschnürtes Gesamtpaket von künstlerischer Darbietung, Lifestyle, Konsum- und Sozialereignis. Der Kunde machte mit, auch wenn die Klagen über stellenweise astronomische Ticketpreise zunahmen. Aber die Lust am Erleben, an der Einmaligkeit im Flow der Gruppe dominierte die Skepsis gegenüber dem Preiswucher.

Dann kam die Pandemie und produzierte erst Lähmung, dann Aktionismus, schließlich Ratlosigkeit. Die absehbare Überhitzung des Live-Geschäfts angesichts von Preisentwicklung, beschleunigter Konkurrenz und verbesserter Streamformate wurde durch Lockdown eins und zwei vorweggenommen. Und das System machte seine Defizite öffentlich. Musiker spürten, wie sehr sie von wenigen Variablen wie Förderung und Publikum abhängig waren. Die Freiheit der Kunst erwies sich als Minus am Konto. Die Politik bemerkte, wie leicht sie an der Oberfläche ohne eine Kultur auskam, die Relevanz behauptete, sie im Alltag zwischen Klopapier und Klinikbett aber nur schwer verdeutlichen konnte, und sie zeigte durch widersprüchliche Hilfsprogramme, wie wenig sie an der Lebenswelt überwiegend freiberuflicher Musiker interessiert war. Das Publikum wiederum konnte sich einen latent hysterischen Sommer lang an die Totalumkehr des bisherigen Modells gewöhnen und wurde mit Gratis-Konzerten online und auf grünen Wiesen geflutet.

Die nächste Zwangsaskese folgte und nun macht das böse Wort Marktbereinigung die Runde. Als der Landesmusikrat Berlin im Januar 2021 freischaffende Musikerinnen und Musiker zu ihrer Lebenssituation befragt, geben 29% zu Protokoll, sie sähen keine berufliche Perspektive, planten einen Berufswechsel oder seien bereits aus dem Spiel. Rund zwei Drittel nützen Unterricht als zweites Standbein. Für rund 80% der Befragten sind außerdem die Novemberhilfen ungeeignet, weil unklar reglementiert oder falsch konzipiert.

Das heißt erstens: Unterricht ist zentral. Alle Formen von musischer Pädagogik und Laienmusik dürfen, sollen daher umfassend gefördert werden. Die Nachfrage besteht, das musische Erleben kann sozial, künstlerisch oder konzeptionell ruhig im Mittelpunkt einer sich als kreativ definierenden Gesellschaft stehen.

Zweitens: Unabhängigkeit ist grundlegend. Musik muss strukturell möglich sein, angefangen bei sinnvoller Besteuerung des einzelnen und der Sparte bis hin zur Unterstützung von Projekten, Orten und Prozessen.

Drittens: Musik muss sichtbar sein, wenn sie mehr sein will als ein Verbrauchsartikel. Der Staat hilft, indem er die Infrastruktur schafft, vom digitalen Datenfluss bis zur öffentlichen Wertschätzung. Dabei lohnt es sich, die Perspektive zu wechseln und aus Hörer- und Zuschauersicht zu fragen, worin der Mehrwert eines Projekts, Albums oder Streams besteht. Ist es die Ästhetik, die Sprache, das Thema? Der Ort, die Zeit, das Format? Die Gestaltung, Brillanz, Eleganz? Die Pädagogik, der Humor, der Regelbruch? Oder ist einem schlicht der Ohrwurm des Jahrzehnts gelungen? Will man also der Krise an sich einen Mehrwert abgewinnen, dann ist es die Vehemenz, mit der sie die Szene auf sich selbst zurückgeworfen hat – mit der Aufgabe, aus dem Mangel und der erzwungenen Reduktion etwas zu machen, das Zukunft haben könnte. Die Diskussion ist eröffnet.

Ralf Dombrowski ist Musikjournalist, Buchautor und Photograph aus München, arbeitet seit 1994 unter anderem für die Süddeutsche Zeitung, den Bayerischen Rundfunk, Fachmagazine wie Jazz Thing, jazzzeitung.de, Stereoplay und Kulturzeitungen wie das Münchner Feuilleton. 2013 erhielt er den Preis für Deutschen Jazzjournalismus (https://de.wikipedia.org/wiki/Ralf_Dombrowski, www.ralfdombrowski.de)

 

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