Der Beitrag basiert auf den Erfahrungen des Autors bei einer Konzertreise mit seinem Schulchor und der von seiner Kollegin geleiteten Blockflötengruppe ins nordlitauische Šiauliai. Für deutsche Chöre, Orchester, Big Bands und andere Formationen aus dem Bereich Schulen oder Musikschulen sind die baltischen Staaten auch 15 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion immer noch „terra incognita“, obwohl sie mittlerweile zur EU und NATO gehören. Dabei lohnen sie sich durchaus als Ziel – in künstlerischer wie allgemeiner kultureller Hinsicht. Die Erfahrungen aus Litauen können nach ersten Beobachtungen auch auf die beiden anderen baltischen Staaten übertragen werden.
1. Die Musikstile
In baltischen Staaten verbinden sich derzeit das traditionell hohe gesangliche Niveau und die Pflege von Volksmusik und Volkstanz mit dem Einsatz elektronischer Instrumente und von Verstärkeranlagen. Auf den ersten Blick mutet es etwas befremdlich an, wenn als „Chor“ ein Dutzend Sänger, zwei Violinen mit Pickups, drei Frontsängerinnen mit Mikro und ein Drumset anrücken und der Gesamtklang zum erheblichen Anteil über Playback geformt wird. Die Erfolge dieses mittlerweile auch in den unteren Klassen vollzogenen musikpädagogischen Ansatzes zeigen sich aber in den guten Beiträgen baltischer Staaten bei Schlager- und Pop-Contests. Hier dümpelt – beziehungsweise siegelt – Deutschland im Trüben zwischen Comedy à la Stefan Raab und braver, fader Seichtigkeit für ältere Hausfrauen.
2. Die Anreise
Ein Knackpunkt jeder Baltikum-Expedition ist die Anreise. Mit dem Zug ist es ein Ding der Unmöglichkeit – zahlreiches Umsteigen auch auf Fernbusse oder ein Abstecher durch Weißrussland drohen. Das Mitnehmen von Instrumenten und sonstigem Equipment wird zur Qual. Mit dem von hier gemieteten Bus muss Polen durchquert werden – die Straßen sind lang und teilweise in sehr schlechtem Zustand. Von Kiel, Rostock oder Saßnitz gehen Fähren, man ist dann aber dringend auf einen Bus vor Ort angewiesen. Gleiches gilt bei Flügen. Ab Frankfurt (Lufthansa) oder Kopenhagen (SAS, Air Baltic) sind die Maschinen voll, da hier gezielt alle Baltikum-Reisenden gesammelt werden. Günstige Tickets in großen Mengen sind schon gleich gar nicht erhältlich, direkte Flüge (etwa mit LatCharter) sind im Aufbau begriffen. Ein Direktflug etwa von München nach Riga (Air Baltic) landet dort gegen 23 Uhr. Generell wird man bei Konzertreisen das Problem haben, dass das Verhältnis von Aufenthalt und Fahrweg ungünstig ist. Es sei denn, man nutzt die Konzertreise für einen angehängten, durchaus reizvollen Aufenthalt.
3. Die Kontakte
Balten sind überaus freundliche Menschen, solange man nicht aus Russland kommt. Hier sind alte Wunden noch nicht vernarbt – der überaus sparsame Applaus für russische und weißrussische Kinder bei dem vom Autor besuchten Festival lag keineswegs an deren Leistungsniveau. Und auch auf der anderen Seite sind Aversionen erkennbar: Russen und Weißrussen geizten ebenfalls mit Anerkennung, wenn Gruppen aus Staaten, die früher zur Sowjetunion gehörte, auftraten. Auf der anderen Seite ist ein Mitreisender, der Russisch spricht, unabdingbar. Insbesondere, wenn Alltagsgeschäfte zu erledigen sind. Deutsch und Englisch werden zwar von gebildeten Schichten – mit denen man unmittelbar organisatorisch zu tun hat – teils sehr gut beherrscht. Insbesondere die mittlere bis ältere Generation, die für organisatorische Nebenschauplätze in Unterkünften oder Läden ebenso benötigt wird, spricht kaum eine westliche Fremdsprache. Dafür besteht insbesondere bei Festivals die Option, Gruppen aus anderen Ländern von Finnland bis Georgien kennen zu lernen.
Balten bieten gerne an, Schülergruppen privat aufzunehmen. Ein heikles Thema, denn bei Monatseinkommen um 180 Euro müssen viele Eltern für ihre Gastfreundschaft zuvor darben und sich das Verwöhnen des Austauschschülers oder auch nur eine normale Verpflegung vom Mund absparen. Zudem scheint es öfters vorzukommen, dass man dem Gast den 30 Jahre alten Teppichboden nicht zuzumuten wagt, wenn der ein meist für die Beherbergung freigemachtes Zimmer bezieht und hohe Investitionen im Vorfeld tätigt. Gästezimmer haben Balten in aller Regel nicht – der Gast erhält eines der Zimmer in eher kleinen Wohnungen, in denen mehrere Generationen zusammen leben. Jugendhäuser, die häufig zu Universitäten, Fachhochschulen oder Akademien gehören, sind preiswert (ca. 8 Euro/Nacht) und sauber.
4. Die Preise
Generell fahren Deutsche in den baltischen Staaten finanziell sehr gut. Die Preise erreichen nur ein Drittel oder ein Viertel des deutschen Niveaus. Dies erfordert bei gemeinsamen Aktivitäten Fingerspitzengefühl: Während das Preisniveau bei deutschen Schülern kaum das Taschengeld angreift, sind zwei Euro für eine Pizza und eine Cola für eine baltische Durchschnittsfamilie sehr viel Geld. Die Gefahr, als protzig zu wirken, ist groß. Auf der anderen Seite muss man bei Einladungen und ähnlichem einen fairen Ausgleich finden. Es ist baltischen Jugendlichen meist nicht möglich, während des Zeitraums der anwesenden Gäste allabendlich mit diesen zu feiern. Diskrete Einladungen, Freigetränke durch die Leitung und ähnliches sorgen dafür, dass die Würde nicht beeinträchtigt wird. Das Essen – egal ob lokale Spezialitäten oder Pizza und Döner – ist mehr als ausreichend und in der Regel sehr gut. Das Bier schmeckt gut, allerdings ist der Verkauf offiziell erst ab 21 Jahren erlaubt. Auch wenn die meisten Gaststätten dies ignorieren und einen „pro forma-Erwachsenen“ akzeptieren, der ordert, reduziert dies doch den bei Fahrten mit Jugendlichen allfälligen Alkoholkonsum – der erwachsene Besteller kann das Nachordern einfach einstellen, wenn der Alkoholisierungsgrad zu groß zu werden droht.
5. Die Kultur
Alle drei Staaten bieten eine reichhaltige Kultur, die einerseits auf uralten baltischen Traditionen beruht, andererseits von zahlreichen Einflüssen aus Nachbarkulturen sowie religiösen Traditionen (katholisch in Litauen und Lettland, lutheranisch in Estland) kündet. Sehenswürdigkeiten können jedoch meist schlecht mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreicht werden – Busse sind also vonnöten.