„Glockenschall, Glockenschwall supra urbem, über der ganzen Stadt, in ihren von Klang überfüllten Lüften! (…) da ist nicht Zeitmaß noch Einklang, sie reden auf einmal und alle einander ins Wort, ins Wort auch sich selber: an dröhnen die Klöppel und lassen nicht Zeit dem erregten Metall, daß es ausdröhne, da dröhnen sie pendelnd am anderen Rande, ins eigene Gedröhne …“
So beginnt Thomas Manns „Der Erwählte“ (1951) mit einem riesigen, ins unermess- und unendlich steigender mystischer Glockenhymnus des Geists der Erzählung, und so verdichten sich die beiden realen Klaviere von Andreas Grau und Götz Schumacher mit den vier in Lautsprechern virtuell sie umgebenden Klavieren in „Le Temps, mode d’emploi“ von Philippe Manoury in einer brillanten, in diesem Jahr erschienen Einspielung.
In sich geschlossen
Mit drei gewaltigen Akkordschlägen, in dem bereits der zentral-schwebende gamelanorchestrale Ton h-b pausen- und haufenweise durchschimmert, beginnt ein achtsätziges, vollkommen in sich geschlossenes Werk, das nichts Geringeres als das Erleben der Zeit zum Inhalt hat: „Kontemplative oder aktive Zeit, kontinuierliche oder diskontinuierliche, gleichmäßige oder pulsierende, ausgesetzte, wiederaufgenommene, kreisende, gebeugte, die physische oder musikalische Zeit, aber auch die psychische Zeit“, so erklärt der Komponist im informativen Booklet seine Höranweisung zu „Le Temps, mode d’emploi“. Und mit diesem schwirr-schwebenden h-b (oder besser bis?) endet der Zyklus auch vor einer sich ins Endliche CD-beschließenden Pause. Und in der knappen Stunde dazwischen passiert allerhand Hörenswerte. Das GrauSchumacher Piano Duo arbeitet schon seit Jahren mit Philippe Manoury zusammen, und „Le Temps, mode d’emploi“ führte es mit dem Komponisten am Pult der Elektronik seit der Uraufführung bei den Wittener Tagen für neue Kammermusik im Jahr 2014 in den meisten europäischen Großstädten und Japan auf. Wenngleich eine Studio-Aufnahme immer ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten hat, wirken in dieser Einspielung nicht nur die erlebte Konzerterfahrungen und professionelle Routine nach, sondern es spiegeln sich darin auch die Begeisterung dieses „physischen Trios“ und ihrem virtuellen Klavier-Sextett in den musikalischen Spannungsbögen. Bei dieser CD-Einspielung ist alles lebendig! Aufgenommen wurde es im renommierten SWR Experimentalstudio und erschienen ist es im Hauptlabel von GrauSchumacher Piano Duo NEOS (11802).
Die acht nicht näher bezeichneten Sätze dieses Werkes sind paarweise-suitenhaft miteinander in Gegensätzen verbunden; sie gehen eigentlich ineinander über, obwohl deren Ende und Beginn auch intuitiv klar zu verorten ist. Wie zu erwarten spiegelt es und bezieht es sich auf Inkunabeln der jüngeren Neuen Musik von Igor Strawinsky über Pierre Boulez bis zu Karlheinz Stockhausen. Doch ebenso interessant ist es, dieses Manoury’sche Werk vor dem Hintergrund Perotin’scher hochgotisch-pariser Organa, Beethoven’scher Klavierdramatik, bartóklich-abstrakt-rumänisch-ungarischer Folklore oder Schönberg-zwölftöniger Melodie-Bildungen zu hören. Hinzu kommen noch Assoziationen zu Enrico Morricones Filmmusiken wie etwa „Once upon a Time“, wo mit musikalischen Mitteln die spannendsten Szenen als unendliche Erlebniszeit ins Gedächtnis eingedehnt werden. Hier formen sich Einstein-mäßig Erlebnisraum und Erlebniszeit rela- und subjektiv.
Schwirrend schwebend
Erstaunlich ist, wie traditionell „Le Temps, mode d’emploi“ gehört werden kann, obwohl es natürlich keine „Themen“ aber viele Themata und immer wiederkehrende „Motive“ eigentlich ohne Intervalle gibt, die sich in wie ein rumänisches Hackbrett tönenden Klangnestern stets minimal minimalistisch verändern, weiterentwickeln, auflösen oder neu formieren und in schwirrend-schwebenden zu neuen Tonhöhen mutierenden unidentischen Primen eingebettet sind, die an fernöstliche Meditationsmusik gemahnen. Bei alle dem erstaunt doch der Horror vacui. Vom Ende abgesehen gibt es akustisch eigentlich keine Pausen in diesem Werk.
Und genau darin liegt das Mitreißende dieser Komposition und Aufnahme. Bei allen gegensätzlichen Erlebniszuständen zum Thema Zeit – stürmisch, ruhig, gedehnt, beschleunigt, um einen Punkt kreisend, wild hin- und herspringend, still, laut, messbar, überstürzend, subjektiv, objektiv – der Hörer kommt dank mangelnder Pausen nie zur Ruhe. Götz Schumacher und Andreas Grau haben es auf den Punkt gebracht.
CD-Tipp
Philippe Manoury: Le temps, mode d‘emploi. Bestellnr. NEOS 11802, Erschienen: Juli 2019
Preis: 18 Euro (siehe auch nmz 9/2019, S. 14)