Adorno ist dort am besten, wo seine Gedanken über den Zusammenhang von Musik und Gesellschaft am radikalsten erscheinen. Das musste letztlich auch einer der geistreichsten Adorno-Kritiker Heinz-Klaus Metzger zugeben. Was besonders bedenklich stimmt, ist das Fehlen der Frage, wie man es heute mit Adorno hält. Es würde den Rahmen dieses Artikels völlig sprengen, wollte man darüber Umfassendes sagen. Daher bleibt nur, ein paar Gedanken Adornos aufzugreifen, der die Geister wegen ihrer Radikalität bewegt.
Ein fast zentraler Gedanke in Adornos Werk ist die Frage nach dem Alterungsprozess von Musik in Bezug auf das Entstehen neuer Werke. Adorno spricht bei den musikalischen Bausteinen, aus denen sich ein Musikwerk zusammensetzt, immer von Material. Das ist insofern sinnvoll, als ihm auf diese Weise in der Tradition der Philosophie und Ästhetik des 19. Jahrhunderts eine deutliche Trennung zu jenen Bausteinen des Musikwerkes gelingt, die außermusikalisch sind. Also ein Text ist in eindeutiger Konsequenz außermusikalisches Material, wird aber, zerlegt in seine Lautbestandteile, des Außermusikalischen enthoben und direktes musikalisches Material, eine Idee, die erst Jahre nach Adorno in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts am praktischen Werk greift.
Wie Beethoven in seiner an philosophische Analyse erinnernden Technik der Material-Sezierung (z.B. Diabelli-Variationen), stellt auch Adorno die Frage nach der Beschaffenheit des Materials und beginnt ebenso zu sezieren, um auf diese Weise zu wissenschaftlich tragbaren Aussagen zu gelangen. Dieser Denkansatz geht auf Hegels Dialektik zurück. In der Theorie einer Ästhetik des „sozialistischen Realismus“, wie sie in letzter Konsequenz durch den Halleschen Musikwissenschaftler Walter Siegmund-Schultze ausformuliert wurde, pervertiert diese These zur „Ideologierelevanz des musikalischen Materials“. Das ist selbstverständlich eine völlige Verflachung des Ansatzes von Adornos Fragestellung durch das Herabziehen in isoliert politische Relevanz eines Materials. Dass die musikalischen Bausteine von Musik völlig unpolitisch sind, wird auch durch Adorno erkannt. Letztlich sind politische Musikwerke nur durch außermusikalische Bauelemente mit dieser Eigenschaft behaftet. Die Melodie des Horst-Wessel-Liedes der Nazis hat an sich nichts Faschistisches. Genauso wenig ist die Melodie unserer Nationalhymne mit der Eigenschaft von Demokratie in Zusammenhang zu bringen. Worum es Adorno aber vorrangig ging, war die Frage nach der qualitativen Neuartigkeit von Musik überhaupt.
Natürlich spielen gesellschaftliche Bedingungen immer eine Rolle, aber auch hier hat die Sache den Haken, dass zum Beispiel die demokratischste Form der Anordnung der Töne in der Musik jene ist, die Schönberg als solche von „zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen“ kreierte. Eine Kompositionsweise, die in den modernen westlichen Demokratien soziologisch gesehen eine untergeordnete Rolle im Bewusstsein der Menschen spielt. Andererseits gibt es unleugbar einen Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Bedingungen und dem Bild der Kunst in einer Regionalzeit. Adorno interessiert letztendlich, in wieweit ein musikalisches Kunstwerk in welchem Kontext zu seiner Entstehungszeit steht. Vielleicht ist hier das Wort von der Ehrlichkeit im Schöpferischen zutreffend. Wenn Adorno nun am Musikwerk die geistige Verlogenheit zu geißeln versucht (Eisler bezeichnet es in Gesprächen mit Hans Bunge als die „Dummheit in der Musik“), dann über die phänomenale Zeitproportionalität. Er stellt also fest, dass es musikalische Materialbausteine gibt, die in gewissen Zusammenhängen in immer gleichartigen Varietäten auftreten.
Auch wenn heute viele neuere und andersartige ästhetische Positionen einerseits Adornos Thesen untermauern und ihnen andererseits widersprechen, liegt in der benannten Grundüberlegung ein Schlüsselgedanke über die Sinngebung in der Musik. Allein die als Stilistik festzumachende Gleichheit von Materialbausteinen einer „Musikart“ ergibt sich als Notwendigkeit. So sind die Elemente der populären Unterhaltungsmusik, die GEMA nennt das in ihrem Wertungskanon U-Musik, und jene der artifiziellen ernsten Musik, in der GEMA als E-Musik bezeichnet, sehr grob gesehen verschieden. Zu beobachten ist, dass die Grenzen zwischen U und E immer mehr Unschärfen aufzeigen, die eine immer feinere Abstufung bei der Einstufung einzelner Werke oder ganzer Stile bedeutet. Wer die Arbeit des Werkausschusses der GEMA einmal leibhaftig beobachten konnte, weiß, wie dünn das Eis der Argumentation über bestimmte Einstufungen von Werken sein kann.
Die aktuelle Kulturpolitik in Sachsen-Anhalt befindet sich, da die Auseinandersetzung mit den eben skizzierten Gedanken eher parzivalartige Überzeugungen kreiert in eben jener Not wie die um Gerechtigkeit bemühten GEMA-Mitglieder in entsprechenden Ausschüssen. Letztlich gebraucht wird der „reine Tor“, der allein aus dem Gefühl heraus (Be-)Wertungen über die Förderwürdigkeit künstlerischer Projekte anstellt. Da ist jeder Widerspruch von vornherein ausgeschlossen. Das „Lob der Torheit“ des alten Erasmus bekommt so eine neue Bedeutung. Immerhin hat sich viel getan. Seit Jahren streiten sich die Geister um die rechte Form und das entsprechende Herangehen bei der Problematik der Förderung Neuer Musik: Festival, ja oder nein, landesweit oder eher regional verortet, demokratisch oder als reines Intendantenfestival, mit vorwiegend Musik aus dem eigenen Land oder als internationales Festival, bei dem die landeseigenen Künstlerinnen und Künstler – Ensembles wie Komponierende – eine eher zweifelhaft untergeordnete bis gar keine Rolle spielen.
Leidtragende sind die „Musikerfinderinnen & Musikerfinder“, weil der Umfang der Möglichkeiten, ihre Werke im Land präsentieren zu können, seit gut 15 Jahren kontinuierlich gesunken ist. Dass damit auch das über Jahre aufgebaute Publikum für Neue Musik schwindet, hat damit zu tun, dass mangelndes Interesse an mangelnden Möglichkeiten gebunden ist.
Momentan ist die Uneinigkeit Programm, mehrere nebeneinander laufende, jedoch allseits landesweit aufgestellte Festivals kämpfen dem Anschein nach mehr um die Gunst der Politik als um die Gunst der Hörerschaft. Ausgelöst hat diese Situation vor Jahren ein Parzival der Kulturpolitik in seiner Funktion als Kultusminister. Jan Hendrik Olbertz brachte die Idee landesweiter Festivals Neuer Musik als Angriff auf die regional verorteten Hallischen Musiktage in die öffentliche Diskussion ein. Um also landesweit zu wirken, so die Torheit, müsse man überall im Bundesland Konzerte und Veranstaltungen anbieten. Nun gibt es kein einziges örtlich zentriertes kleines Festival mehr, sondern eine Breitenstreuung, die zu gewissen Verzerrungen führen muss. Das führt folgerichtig zu Konflikten zwischen einem künstlerisch-ästhetischen Anspruch und soziologischen Bedingtheiten. Der große Konsum findet in den Metropolen statt, mit ihren Kulturstätten und einem auf diese Bedingung eingestimmten Publikum. Es ist schwierig metropole Modelle in die Provinz transferieren zu wollen. Im Besonderen betrifft das Kulturbereiche, die an sich ein Nischendasein führen, deren Protagonisten und deren Rezipienten vorrangig an zumindest größere Städte gebunden sind. Über die Probleme bei der Programmierung in ländlicher Gegend oder in kleineren Städten wissen viele Kultureinrichtungen – wie Burgen und Schlösser – außerhalb der Metropolen zu berichten. Da muss so manche artifizielle Idee wegen mangelndem Interesse ausfallen.
Wird es also eine neu-alte oder alt-neue Musik geben müssen? Landesweit taugliche Musik, mit dem Stallgeruch der populären Volksmusik? Irgendwie findet Fortschritt im Sinne Adornos ohnehin in immer geringerem Maß statt – auf dem Land auch schon zur Blütezeit der Philosophie der Neuen Musik nicht. Und die Hoffnung auf die von Hans Zender propagierten „glücklichen neuen Ohren“, die dem Menschen der Zukunft wachsen würden, hat sich eher zu den „verstopften Ohren“ entwickelt, über deren Glücklichkeit ich nichts zu sagen weiß.
Sachsen-Anhalt hat vor ein paar Jahren beschlossen, der politischen oder sonstiger Müdigkeit Herr zu werden und den Slogan „Land der Frühaufsteher“ gegen „#modern denken“ auszutauschen. Ob das nun munterer werden wird, darf nach den anfänglichen Erfahrungen mit der Neuen Musik eher skeptisch gesehen werden. Nach den Verlautbarungen der für Kultur zuständigen Staatskanzlei sollte 2022/23 ganz der Neuen Musik gewidmet sein. Als Zweiter Vorsitzender des Landesverbandes Sachsen/Sachsen-Anhalt des Deutschen Komponist:innenverbandes darf ich anmerken, davon nichts gemerkt zu haben, was ich bemerkenswert finde.
Der geistige Einfluss, den der aus der Katastrophe des deutschen Faschismus stammende Theodor W. Adorno auf die Achtundsechziger Bewegung in der alten Bundesrepublik ausgeübt hat, wird oft überbewertet, obwohl besonders die Radikalität seiner Ansichten in vielen Köpfen jener Bewegung den Gedanken einer geistigen Befreiung von der Patina der Zeit beflügelte. Für die Musikentwicklung des 20. und 21. Jahrhunderts hingegen war und ist Adornos Philosophie wesentlich. Seine Impulse bedeuteten Aufbruch zu neuen Ufern. Das ist letztlich auch Generationsgesetz, dass das Neue sich vom Alten scheidet. Jedoch darf die Frage, ob dieses Generationsgesetz in allen Bundesländern, bei allen Veranstaltern und kulturell Tätigen wie Interessierten zu Einsichten führt, bis heute nicht schlüssig geklärt sein.