neue musikzeitung: Frau Haußmann, am 20. Mai fand im Haus der Stiftungen ein Konzert statt, bei dem bis auf wenige Ausnahmen Ihre Werke zu hören waren. Gab es dafür einen besonderen Anlass?
Karin Haußmann: Der Anlass war eine CD-Produktion meiner Werke mit dem E-MEX-Ensemble, die der Deutschlandfunk und die Kunststiftung NRW im vergangenen Jahr finanziert hatten.
nmz: Fand das Konzert darum auch im Haus der Stiftungen statt?
Haußmann: Ja, die Kunststiftung hatte die CD mit gefördert und sie waren deswegen auch sehr glücklich damit, dass das Präsentationskonzert bei ihnen im Haus stattfand.
nmz: Die Atmosphäre dort war sehr schön. Bisher ist das Haus der Stiftungen noch nicht als Konzertraum bekannt geworden. Ist das eine neue Einrichtung?
Haußmann: Ja, es war, glaube ich, auch für sie eine Art Test. Was ich an der Kunststiftung besonders schätze, ist, dass sie immer versuchen, den Hauptanteil an Geldern der Musik und der Kunst zu Gute kommen lassen und nicht den Institutionen. Diese Wertschätzung macht die besondere Atmosphäre aus.
nmz: Gehört der Flügel auch mit zum Inventar?
Haußmann: Ja, er gehört zum Haus und wir sind sehr dankbar, dass wir dort konzertieren konnten.
Live-Konzert vs. CD-Aufnahme
nmz: Ist es wichtig für Sie, dass Ihre Werke auch auf CD eingespielt werden? Oder ist Ihnen die Aufführung im Konzert wichtiger? Für mich persönlich erleichtert das Konzerterlebnis besonders den Zugang zur zeitgenössischen Musik.
Haußmann: Ich persönlich möchte Musik nur in Konzerten hören. Der Raum ist ein wesentlicher Bestandteil der Stücke, – das merkt man besonders dann, wenn ein Raum überhaupt nicht geeignet ist. Meine Musik arbeitet auf eine Art und Weise mit zusammengesetzten Klängen, die eine bestimmte Raumakustik brauchen, um überhaupt zustande zu kommen. Ich finde es spannend, diese Stücke im Raum zu hören, sie verändern sich. Dazu kommt, dass bei einer Live-Aufführung immer wieder andere Musiker spielen, die ebenso Bestandteil des Werkes sind. Die Stücke hören sich immer wieder anders an. Das liebe ich sehr, das ist das Lebendige und es ist nie genau gleich.
nmz: Dagegen wirkt die CD natürlich eher steril.
Haußmann: Ja, die CD ist Fluch und Segen zugleich. Einerseits verstärkt sie unseren Hang zum Perfektionismus – das ist der Fluch –, andererseits fördert sie die Verbreitung von Musik und bietet nebenbei eine wichtige Referenz für mögliche Auftraggeber.
Auftraggeber
nmz: Wenn Sie komponieren, denken sie dann an bestimmte Interpreten?
Haußmann: Bei Solokompositionen ist es tatsächlich so, dass die Idee und die Person im Vordergrund stehen. Ohne persönliche Freundschaften hätte ich nie ein Orgelstück oder die Klavierstücke geschrieben. Oder den Liebesliederzyklus für Sopran und Akkordeon, der gerade entsteht.
nmz: Das heißt, dass Ihre größeren Werke Auftragskompositionen sind?
Haußmann: Ja. Wenn mehrere oder gar viele Musiker beteiligt sind, kostet eine Aufführung einige tausend Euro. Und je besser ein Auftrag bezahlt ist, desto liebevoller und besser ist dann meist auch die Öffentlichkeitsarbeit, das wird oft vergessen. Das Publikum darf ja auch nicht fehlen. Im Normalfall sind dann auch die Proben der Musiker besser bezahlt, sie können sorgfältiger proben – schließlich leben sie auch davon.
nmz: Sind Sie bei den Proben dabei?
Haußmann: Nicht bei allen, aber spätestens am Tag davor. Mehrere Ohren hören ja schließlich besser. Die meisten Dirigenten und Interpreten mögen es, ein Feedback vom Komponisten zu bekommen, das ist einer der Vorteile bei zeitgenössischen, noch lebenden Komponisten. Wir arbeiten einfach zusammen. Ich finde es schön, wenn ich in den Proben direkt mit formen darf.
Werke
nmz: Bei der Durchsicht Ihres Werkverzeichnisses fällt auf, dass Sie bei den meisten Werken an Zeiträume anknüpfen, die sehr weit zurück liegen, zum Beispiel an Komponisten der Renaissance oder an Klostergesänge. Dem entsprechend haben die Streicher in Ihren Werken – und das passt auch in die Zeit – alle kein Vibrato gespielt. Mögen Sie kein Vibrato?
Haußmann: Wie soll ich das sagen, es gibt ja nicht die Stunde null. Wenn ich bestimmte Töne, Akkorde oder Spielweisen höre, dann sind die direkt verbunden mit musikalischen Erfahrungen, z.B. aus der Klassik oder der Romantik. So ist es auch mit dem Vibrato. Und es eignet sich nicht für alle Klangmischungen. Ein anderes Beispiel: bei melodischem Spiel auf der g-Saite der Geige ist Bruckner im Raum, ob ich das will oder nicht. Das muss ich wissen, es kann einem sonst die eigene Sprache sprengen.
nmz: Es muss aber doch auch gleichzeitig eine Affinität zur barocken und vorbarocken Musik bestehen.
Haußmann: Es ist so, dass mich diese Musik total anzieht. Ich versuchte schon, bevor ich mit dem Klavierunterricht angefangen habe, Bach zu spielen und verstand nicht, warum ich bei meiner ersten Stunde das nicht spielen durfte. Und es gibt Beziehungen zwischen der alten vorbarocken und der neuen Musik. Jeder Ton, der neu eintritt, schafft eine neue harmonische Situation, die ich in dem Moment erst erlebe. Es stehen nicht Kadenzen im Hintergrund, die bestimmte Abläufe thematisieren oder vorgeben, im Sinne einer funktionalen Harmonik. Der neue Ton schafft immer eine neue Situation und man ist auf eine andere Art und Weise im Moment. Da gibt es Anknüpfungspunkte zur neuen Musik. Und im Pop oder im Jazz wird modal gedacht und gespielt. Die harmonische Tonalität gab es also eigentlich nur für eine kurze Epoche, so 250 Jahre. In anderen Kulturen gab es die nicht. Es ist ein ganz kleiner geographischer und zeitlicher Raum. Es ist natürlich fantastisch, was dort entstanden ist, ein sehr komplexes System, und es ist ein Verlust, dass wir dieses so nicht mehr haben, aber es ist nicht mehr unsere Zeit.
nmz: Sie überspringen also stilistisch bewusst die Epoche der Klassik und Romantik?
Haußmann: Nicht wenn ich selbst spiele, aber für das Komponieren bieten sie mir weniger Anknüpfungspunkte. Ich komponiere übrigens auch nicht „im Stil“ der alten Musik, es geht nur um Anregungen und manchmal um Referenzen.
nmz: Scheuen Sie die romantische Emotionalität?
Haußmann: Ja, ich empfinde sie manchmal als vordergründig, wobei ich sehr viele Emotionen habe, wenn ich komponiere und meine Musik ganz sicher auch. Es sind eher die Klischees, die ich vermeiden möchte, Gefühle können doch so komplex sein.
Komponieren mit Kindern
nmz: Sie arbeiten auch gerne mit Kindern und haben in der Vergangenheit schon mehrere Kompositionsworkshops für Kinder angeboten. An welche Altersgruppe denken sie dabei?
Haußmann: Das ist ganz unterschiedlich, bisher waren es meist Kinder und Jugendliche im Alter von 12 bis 20 Jahren.
nmz: Und welche Voraussetzungen müssen sie mitbringen?
Haußmann: Außer Interesse am Komponieren oder Neugierde, es zu versuchen, gibt es keine Voraussetzungen.
nmz: Noch nicht einmal instrumentale Vorkenntnisse?
Haußmann: Nein, je nach Altersgruppe ist der Einstieg anders. Allerdings ist es schon so, dass das Interesse am Komponieren meist über ein Instrument kommt.
nmz: Nehmen wir an, es handelt sich um eine Gruppe von Kindern, die sich noch nie damit beschäftigt haben.
Haußmann: Der Einstieg könnte eine ‚Hörminute’ sein, um die Kinder in den Modus des Hörens zu bringen - eine Methode, die l’art pour l’art in Winsen tiefgehend ausgearbeitet hat. Hören ist das Wichtigste und von da aus wird dann aufgebaut. Man kann dann in dieser Minute Aktionen einführen. Wir überlegen uns zum Beispiel ein einziges Ereignis, geben ihm unterschiedliche Gestalt und experimentieren mit der Wirkung, wie es ganz anders wirkt, wenn es ganz leise oder wenn es ganz laut ist, an welcher Stelle es steht et cetera.
nmz: Das ist dann der Beginn einer Komposition.
Haußmann: Erste kompositorische Erfahrungen. Ein Riesensprung in der Entwicklung passiert, wenn die Kinder merken, dass man mit Musik alles mögliche ausdrücken kann, auch Ängste, oder was ihnen gerade wichtig ist. Meist halte ich Workshops für Kinder und Jugendliche, die bereits selbst komponieren, zumindest erste Versuche bereits gemacht haben. Das ist das, was ich am liebsten mache. Dort ist es dann so, dass jeder sein eigenes Stück schreibt.
nmz: Es ist ihr Ziel, jedem Kind zu helfen, seine ganz individuelle Komposition zu finden?
Haußmann: Ja genau. Es geht darum, eigene Ideen zu erzählen und weiterzuentwickeln.
nmz: Nun müssen die Ideen formuliert werden...
Haußmann: ... das ist der wichtigste Schritt: von der Idee zur Notation, dort geht ohne guten Kompositionsunterricht oft das meiste verloren. Wir versuchen gemeinsam, einen Ansatz zu finden, mit welchen Mitteln man die Ideen in ein individuelles System transformieren oder bestimmte kompositorische Prinzipien formulieren und auch die geeignete Notation dafür finden kann – und nicht umgekehrt, dass die Idee etwa in eine vorbestimmte Kadenz, eine Tonart und den Viervierteltakt eingepasst werden muss, weil es sonst falsch ist. Die Überlegung der Kinder sollte nicht sein: Wie ist es richtig, was wird von mir erwartet? Sondern: Wie kann ich das machen, was ich wirklich will?
nmz: Es gibt also kein richtig oder falsch?
Haußmann: So würde ich es nicht ausdrücken. Das Kriterium ist, ob es ihre Idee ausdrückt oder nicht, ob etwas für diese Idee wichtig ist oder nicht.
nmz: Der Zeitverlauf in der Musik ist ein ganz anderer als der Prozess des Schreibens.
Haußmann: Ein typischer Fehler beim Schreiben ist, dass nach den Anfangstakten in jedem weiteren Takt eine neue Idee folgt. Dann stelle ich meist die Frage: „Was ist für das, was du machen möchtest, das Wichtigste?“. Sofort können sie darauf tippen. Dann frage ich weiter: „Warum ist das andere auch noch da?“ Die Antwort ist immer: „Damit es nicht langweilig wird.“ Wir streichen diese Schlacke und dann überlegen wir, wie kann das ‚Eigentliche’ klingen, wenn man es verändert in die eine oder andere Richtung. Dabei lernen sie, mit wenig Material ein Stück zu machen. Denn entscheidend ist die Frage, ob das, was aufgeschrieben ist, in jedem beliebigen Stück vorkommen könnte, oder ob dadurch die Idee umgesetzt wird. Das finden Kinder, egal in welchem Alter, total einleuchtend.
nmz: Genau das zeichnet Ihre Musik aus, sie klingt nie beliebig.
Haußmann: Einmal hatte ich ein elfjähriges Mädchen, die genau das Problem mit ihrer Notation hatte. Ihr war klar, dass auf dem Papier etwas ganz anderes stand als das, was sie wollte. Auf meinen Vorschlag „du, ich spiel dir mal vor, was dort steht “, antwortete sie nur „Nein, bloß nicht, ne, das darf nicht so klingen, wie es dort steht“. Sie wusste genau, wie es klingen sollte, hatte aber bei ihrem Lehrer gelernt, dass Musik in ein bestimmtes System passen muss – in diesem Fall das Blues-Schema. Es blieb die Frage: „Was müssen wir machen, damit die Sängerin das tut, was du wirklich willst?“. Dann haben wir eine grafische Notation entwickelt und sie schaute mich auf einmal an und sagte: „Das ist doch total logisch, wenn ich eine eigene Idee hab, dann muss ich ja auch eine eigene Schrift finden.“
nmz: Das bringt mich zu meiner letzten Frage: bleiben sie selber bei der traditionellen Notation?
Haußmann: Ich versuche alles, was sich traditionell notieren lässt, auch so zu notieren, damit die Musiker nicht für jedes Stück eine neue Notation erlernen müssen – außer, es ist für das Stück notwendig. Zum Beispiel lässt sich fast alles in normalen Notenwerten ausdrücken. Es gibt Ausnahmen, zum Beispiel das Erzeugen von Schwebungen zwischen Akkordeon und Cello in den Vier Sätzen für Cello, Akkordeon und Ensemble sind so ein Zwischending – ein Prozess, der mindestens 40 Sekunden dauern muss, der ist frei, wenn auch nicht wirklich grafisch notiert. Alles, was geht, ist schon immer sehr genau notiert, ich weiß ja auch genau, was ich hören möchte.