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Von der Spiritualität künstlerischer Ästhetik

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Ein Rückblick auf das DTKV-Gedenkkonzert am 9. November in Hamburg
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Der DTKV-Landesverband Hamburg und die Evangelische Stiftung Alsterdorf (ein modernes und vielseitiges, diakonisches Dienstleistungsunternehmen mit 6.000 Mitarbeitern) luden ein zu „Gemeinsam erinnern: Verfemte Musik verfolgter Komponisten“, im Gedenken an die Reichspogromnacht 1938. Was letztlich am 9. November in der St. Nicolauskirche in Hamburg-Als-terdorf geboten wurde, war ein Gesamtkunstwerk von spiritueller Tiefe, wie es dem Anlass nicht besser hätte entsprechen können.

Vorausgegangen war eine Anfrage an alle Mitglieder des Hamburger DTKV, wer sich mit einem musikalischen Beitrag an diesem besonderen Mosaik aus Wort und Ton beteiligen wolle. Aus den daraufhin eingehenden Vorschlägen stellte die in der Thematik erfahrene Konzertorganistin Kerstin Petersen, die dem DTKV-Vorstand angehört, ein fein abgestimmtes Programm zusammen. Dass insgesamt elf Musikerinnen und Musiker zu einem, man könnte sagen, Art-but-fair-Honorar engagiert werden konnten, ist der Vorsitzenden Friederike Haufe zu verdanken. Es gelang ihr, die Kulturbehörde davon zu überzeugen, dass dieses Projekt, das auf besondere Weise den Stellenwert unserer professionellen Tonkünstler und ihre Vernetzung in das soziale und kulturelle Leben Hamburgs belegt, eine Unterstützung aus dem gerade neu eingerichteten Musikstadtfonds wert sei.

Dank weiterer finanzieller Zuwendungen und personeller Unterstützung durch die Evangelische Stiftung Alsterdorf und die Rathauspassage (ein Projekt des Diakonischen Werks Hamburg) sowie durch die kostenlose Leihgabe eines ausgezeichneten Konzertflügels des DTKV-Fördermitglieds Pianohaus Trübger in Hamburg waren hervorragende Bedingungen geschaffen. Die solcherart abgesicherte materielle Basis verdient besondere Erwähnung, weil sie – und idealerweise sollte es immer so sein – nicht unwesentlich dazu beitrug, dass dann künstlerisch Hervorragendes geleistet und inhaltlich ein eindrucksvolles Konzept übermittelt werden konnte.

Ein problematisches, weil Behinderte und Außenseiter diskriminierendes Altarbild aus der Zeit des Nationalsozialismus erinnert bis heute in der gut 125 Jahre alten Backsteinkirche penetrant an die düstere Vergangenheit, als 1938 ohne äußeren Druck 22 jüdische Bewohner der damaligen „Alsterdorfer Anstalten“ in andere Einrichtungen verlegt und dort getötet wurden. Ein Jahr später begannen die NS-Vernichtungsaktionen. „1941 werden – ausgewählt von Dr. Kreyenberg – 71 Als-terdorfer, im August 1943 nach den schweren Bombenangriffen auf Hamburg weitere 469 Bewohner in nationalsozialistische Tötungsanstalten deportiert. Hinzu kommen Verlegungen in die Fachabteilung des Krankenhauses Rothenburgsort, wo Kinder Opfer medizinischer Experimente werden. Die meisten Deportierten sind jedoch Erwachsene. ‚Euthanasie‘-Ärzte ermorden sie durch systematisches Verhungern-lassen und Überdosierung von Medikamenten.“ So nachzulesen auf der Website der Evangelischen Stiftung Als-
terdorf. Ein kleiner Auszug aus einer schonungslosen Dokumentation, die Namen nennt anstatt zu verallgemeinern, die schreckliche Fehlentwicklungen aufzeigt, andererseits aber auch Hoffnung vermittelt. Denn auch in der Gegenwart sind Namen zu nennen – von Menschen, die sich mutig und verantwortungsbewusst dieser Vergangenheit stellen und neue Perspektiven aufzeigen, denen Taten folgen. Für ein mitmenschliches Miteinander.

Auf bescheidene, aber selbstbewusste Art gaben der Direktor und Vorstandsvorsitzende der Evangelischen Stiftung Alsterdorf, Prof. Dr. Hanns-Stephan Haas, sowie der Geschäftsführer des Beratungszentrums Alsterdorf, Dr. Michael Wunder, eine Einführung in den konzertanten Gedenkabend an geschichtsträchtigem Ort. Nachdem auch Friederike Haufe im Namen des DTKV die über 100 Gäste in der somit gut gefüllten Kirche begrüßt hatte, übernahm DTKV-Mitglied Volker Ahmels als Leiter des Zentrums für Verfemte Musik der Hochschule für Musik und Theater Rostock die fachkundige Moderation der vorgetragenen Werke. Ebenso lebendig und interessant moderierte Pastor Dr. Nils Petersen von der Hamburger Rathauspassage weitere Kompositionen dieses Abends. 

Nicht nur die größere zeitliche Dis-tanz, sondern zusätzlich die Hochstilisierung zu Ikonen der abendländischen Musikkultur lässt uns einen Johann Sebastian Bach, Ludwig van Beethoven, aber auch weniger bekannte Komponisten bis an die Schwelle des 20. Jahrhunderts nicht wirklich als „Kollegen“ erscheinen. Anders hier bei den zwischen 1880 und 1919 geborenen Tonschöpfern, die von Ahmels und Petersen mit kurzen, aber anschaulichen biografischen Skizzen vorgestellt wurden: Zeitgenossen etwa unserer Großeltern oder Ur-Großeltern, Beinahe-Kollegen. Ein gedanklicher Perspektivwechsel zu heutigen Zeiten, wo die Hindemiths, Kreneks, Weinbergs und Tansmans östlicher Diktaturen und Kriegsschauplätze in Deutschland ein Exil zu finden hoffen, sei hier nur gestreift. Es rückt die Schicksale der Verfemten und Verfolgten allerdings noch ein Stück näher zu uns heran. Kann uns trösten, dass etwas aus und vorbei ist? Können wir einen Schlussstrich ziehen und uns – nicht zuletzt aus Selbstschutz – nur regelmäßig, zeitlich begrenzt erinnern, vorrangig als Nie-wieder-Appell an die kommenden Generationen?

Es waren interessante 30 Minuten lang Worte gesprochen und Erinnerungen geweckt worden, bis die Pianistin Gabriele Wulff am Flügel Platz nahm, um den Geiger Holger Hansen zu begleiten. Es waren diese ersten Saitenklänge, der erste sanfte Bogenstrich, die der Trauermusik von Paul Hindemith wie auch dem gesamten Konzert endgültig Atem einhauchten. Mit einem hohen Maß an gestalterischer Ästhetik nahm das Duo der Trauer jegliche Schwere, nicht aber ihren Ernst.

Ebenso beseelt und mit Verve interpretierte die Flötistin Ulrike Beißenhirtz in Begleitung von Gabriele Wulff die Sonatine von Alexandre Tansman. Der Gestaltungswille, die gewünschte musikalische Aussage des Komponisten nimmt keine Rücksicht auf die Schwierigkeiten, die diese den Interpreten bei der Umsetzung bedeuten. Hier soll nicht der Virtuose zum Glänzen gebracht werden, und doch geschah genau das, weil Gabriele Wulff und ihre Solisten ihre Aufgaben so überzeugend meisterten. Das Gleiche gilt für das folgende Klavierduo Friederike Haufe und Volker Ahmels. Die Vier Bagatellen zu Klavier für vier Hände von Ernst Krenek forderten großes Geschick bei der Integration kniffliger rhythmischer Jazz-Elemente: die Betonung von „Un“-Zeiten als Ausdruck einer Anti-Haltung, eines Bruchs mit Traditionen, auch tonal. Dennoch blieb ein durchgehender Puls zu spüren, der davor bewahrte, den gewohnten Boden unter den Füßen gänzlich entzogen zu bekommen.  

Dass die sonst jubilierende „Königin der Instrumente“ durchaus in der Lage ist, sämtliche Facetten menschlicher Empfindungen darzustellen, zumindest unter den Händen (und Füßen) der Konzertorganistin Kerstin Petersen, zeigte sich eindrucksvoll bei einem der „Six Preludes for the Synagogue“ von Ernest Bloch. Hier wie auch bei dem sehr nahegehenden Memento für Orgel „Die Augen“ von Milan Slavicky präsentierte sich Atonalität als Sprache der Sprachlosigkeit. Keine Worte findend für die tausendfach verübten Gräueltaten, von denen nur noch die Steine Zeugnis geben, bleiben dem Komponisten spröde, düstere Klänge. 

Wortlos begaben sich daraufhin die Konzertbesucher und Veranstalter gemeinsam mit Herrn Martin Kindermann von der Jüdischen Gemeinde Pinneberg zum Mahnmal auf dem Gelände der Alsterdorfer Stiftung. Wer wollte, konnte an der Marmortafel mit den Namen der 22 verschleppten und ermordeten Juden einen Stein ablegen.

Nach Gesprächen bei frischem Brot, Butter und Wein am Eingang der Kirche, folgte der zweite musikalische Teil des Abends, der trotz seiner Dauer von drei Stunden einhellig als durchaus nicht lang empfunden wurde. 

Viktor Ullmann, jüdischer Komponist und Kapellmeister, geb. 1898 in Teschen/Oberschlesien, 1942 nach Theresienstadt deportiert, 1944 in Auschwitz ermordet. Ein ganzes Leben in vier Sätzen. Noch nicht einmal vollständige Sätze. Schmerzlicher könnte der Kontrast kaum sein zu den von ihm vertonten Liebesgedichten von Ricarda Huch. So leidenschaftlich, lebensfroh, so poetisch und meisterhaft komponiert, wurden diese ausgewählten Kleinode von der Sopranistin Mechthild Weber zum Leben erweckt, am Klavier begleitet von Eva Barta. Denn wenn auch das junge Leben des Viktor Ullmann jäh und brutal ausgelöscht wurde, seine geistig-seelische Energie strömt unvermindert aus seiner Musik. Auf der Wellenlänge einer hohen künstlerischen Qualität an Technik und Ausdruck, verstärkt durch die offensichtliche Empathie der Interpretin, spricht uns der Urheber dieser Lieder so unmittelbar an, als sei er mit im Raum, der „Kollege“, dessen qualvolles Lebensende uns umso mehr berührt. 

Ullmanns im wahrsten Sinne des Wortes zeitgenössischer Kollege Mieczyslaw Weinberg, seiner jüdischen Abstammung wegen ein Leben lang drangsaliert, sah in seinen Kompositionen eine Möglichkeit der Trauerarbeit: „Ich sehe es als meine moralische Pflicht, vom Krieg zu schreiben, von den Gräueln, die der Menschheit in unserem Jahrhundert widerfuhren.“ Nach-erschaffen von der Geigerin Ewelina Nowicka mit Yasuko Oshikawa am Klavier erscheint Weinbergs Tonsprache intensiv, hohe und tiefe Emotionen auslotend, aber auch losgelöst, luftig, voller Esprit – eingebettet in die klassische Form der dreisätzigen Sonatine (op. 46).

Nach wenigen Hinweisen des Moderators zum nächsten Werk des Abends meinte man ihn geradezu leibhaftig vor sich sitzen zu sehen, den kriegsversehrten Pianisten – sein rechter Jackettärmel, leer, ist hochgeklappt –, wie er sich voller Konzentration in die für ihn komponierte Suite für die linke Hand quasi hineinstürzt. Kraftvoll-brillant meisterte der zum Glück völlig unversehrte Johannes S. Leung drei Sätze aus dieser Suite von Erwin Schulhoff. Ungeachtet tatsächlicher oder nur angenommener körperlicher Einschränkungen mit Geschick und Willenskraft auch höchste technische Hürden zu meistern, um sich künstlerisch auszudrücken, gelang Leung beeindruckend. Die Drei Skizzen op. 7 von Hans Gál, nun beidhändig gespielt, standen unverdient ein wenig im Schatten des zuvor Erlebten. Mit dem „Ragtime“ aus der Suite 1922 von Paul Hindemith glückte ein abschließender Bogen zum ersten Werk des Abends, und ein versöhnlicher, heiterer Ton entließ das reichlich beschenkte Publikum, das allen Mitwirkenden, den Künstlern, Moderatoren, Gastgebern und Helfern mit lang anhaltendem Applaus dankte. 

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