Ich bin Musiker und sagte früher in meinen Konzerten gerne: „Wir wohnen in Wandlitz“. Und nach einer kurzen Pause sage ich: „Aber wir waren‘s nicht“. Dann lachten 80 Prozent der Zuhörer und ich sagte: „Wer jetzt nicht gelacht hat, ist Wessi“. Dann lachen alle. Oder niemand. Der Witz funktioniert sonderbarerweise heute noch.
Vergessen wir aber auch nicht die wundervolle Aufbruchsstimmung vor 30 Jahren, das Aufatmen, die Freude. Es waren erfüllte Jahre, in denen vieles ging, manches auch den Bach hinunter. Aber es bewegte sich etwas in der Gesellschaft und im eigenen Leben. Dann tobte zehn Jahre lang die Stasi-Debatte durchs Land und überschattete alles. „Alles Stasi außer Mutti“ dichtete der Komponist und Sänger Reinhard Lakomy damals zutreffenderweise. Dann hörte man zehn Jahre nichts von und über die Wende, dafür haufenweise von Hartz-IV-Schicksalen und Treuhandfehlern. Und jetzt nach 30 Jahren sind die „Befindlichkeiten“ dran; jede Zeitung ist voll davon, jede Talkshow hat Gäste zum Thema eingeladen, Bücher über die Ostdeutschen erscheinen regelmäßig. Das alles ist Grund genug, einmal ein persönliches Resümee zu wagen und das Thema dann für immer abzuschließen.
30 Jahre soll die Wende schon her sein? Dieser Wirrwarr aus Hoffnungen, Träumen, Utopien und knallharten Realitäten, der 17 Millionen Leben umgekrempelt hat und später als Fußnote der deutschen Nationalgeschichte wahrscheinlich kaum 20 Zeilen umfassen wird. Diese grandiose Selbstbefreiung von lauter mehr oder weniger ängstlichen Hasenfüßen mit nichts in den Händen außer ein paar Kerzen und ohne dass ein Schuss gefallen wäre. Es ist mir das alles immer noch unbegreiflich, sowohl der Ablauf als auch die Dimension der Ergebnisse. Wäre ich christlich, würde ich dem Allerhöchsten täglich dafür danken und ehrlich gesagt, tue ich das sogar manchmal. Nur wenn ich meine lieben Landsleute über die Vergangenheit reden höre: über die billigen Mieten und dass es keine Penner gegeben hätte und dass da Vollbeschäftigung war und so weiter, dann kriege ich einen leichten Brechreiz. Denn das ganze Beitrittsgebiet, anfangs „ehemalige DDR“, jetzt „Weißt-du-noch-damals-bei-uns-in-der-DDR“ genannt, wurde in den letzten Jahren kokongleich mit der Legende vom guten, schönen und einfachen Leben umsponnen. War es so? Ja und nein.
Hilfreich gegen Mythenbildung ist nur die schonungslose Erinnerung, etwa an volkseigene Konsumläden, links Rotkohl, rechts Weißkohl, Alkohol bis unters Dach, aber Milch ab 11 Uhr nicht mehr. Gut gegen die Rührung (ach ja, damals; weißt du noch …) ist es auch, sich die Propagandafilme, die FDGB-Heime, Aufmärsche, Fahnen und Transparente ins Gedächtnis zurückzubringen. Die schäbigen Bruchbuden ohne Bad und Fernheizung wären zu erinnern und die Braunkohlen- und Abgasgerüche nicht zu vergessen. Am Schlimmsten aber war die schleichende Militarisierung des Landes, die grauenvolle vormilitärische Ausbildung ab der 9. Klasse, dieses in Uniform und Gleichschritt marschieren müssen und die ständige Angst vor Reservediensten, Feldlagern und Kampfgruppeneinsätzen. Wer nicht mitmachte, durfte nicht studieren und ich wollte studieren. Aber das habe ich am meisten gehasst an diesem Land und als dann auch noch Atomwaffen in der DDR stationiert wurden, war diese Tatsache für viele der entscheidende Grund zur Bildung der ersten Friedensgruppen unter dem Kirchendach. Schwerter zu Pflugscharen: das mobilisierte zum ersten Mal eine wesentliche Zahl junger Leute. Schwerter zu Pflugscharen ist die Skulptur des Bildhauers Jewgeni Wutschetitsch und wurde 1959 der UNO von der Sowjetunion geschenkt, wo sie heute noch im Garten des UNO-Hauptgebäudes steht. Ein schöner Treppenwitz der Geschichte.
Aber konkret. Was tat ich denn an diesem einmaligen Tag, der begann, wie tausende vor ihm? Ich tat das Gleiche wie am Tag davor und davor und an den vielen, vielen Stunden und Tagen danach: Ich saß vor der Glotze. Zwei Programme Ost und zwei Programme West ermöglichten es, einigermaßen mitzukriegen, was läuft. Oder was laufen sollte. Die Frau und die Kinder reagierten auf meine ständigen Tag- und Nachtschichten auf dem Kanapee mit Unverständnis. Sie liefen jeden Montag mit um den Leipziger Ring und riefen den einen Spruch:
„Wir sind das Volk“ – für die Kinder war es ein Abenteuer, mehr nicht
Am Tag der Maueröffnung ging die Familie früh ins Bett. Außer mir. Ich zappte ein paarmal hin und her und wusste dann, dass der Nachtschlaf kurz ausfallen würde. Schauderhafte und schöne Bilder ohne Ende, berauschend, einmalig, waren im Fernsehen zu schauen. Die Familie nahm beim Frühstück beiläufig Notiz. In der Schule fehlten 50 Prozent der Lehrer und 80 Prozent der Schüler. Die Geschäfte waren leer, Busse und Bahnen fuhren deutlich seltener als sonst. Ich war nur müde.
Ich hatte das andere Land zwei Jahre vorher schon besuchsweise erkunden dürfen. Das war 1986 während der ersten Münchener Opernbiennale, die der Komponist Hans Werner Henze ins Leben gerufen hatte. Wir drei jungen Leute waren als Delegation des Komponistenverbandes (Abt. Nachwuchsförderung) ohne einen Pfennig Geld losgeschickt worden. Die netten Mitarbeiter in München versorgten uns mit Lebensmitteln und besorgten Fahrkarten für den Nahverkehr.
Und auch diese Szene hat es wirklich gegeben: die nette Dame im Café des Pressebüros, die den Ossis Arbeitsstellen anbot, falls wer bleiben möchte. Bei mir waren zwei feste Stellen im Angebot (sofort) und eine war richtig attraktiv. Aber ich war gut erzogen und hatte Familie. Doch ich gestehe zugleich auch ein: Ich wollte gar nicht weg.
Ich durfte dann 1988 noch mal raus, nämlich mal kurz für einen Tag in die selbständige politische Einheit, so hieß Berlin-W damals im Bonzenjargon. Ein entsprechendes Konto, so die Kollegen, sei da und dort am Bahnhof Zoo einzurichten. Kontoauszüge würden auf Wunsch nicht nachgesendet. Die beste aller Ehefrauen hatte mir aber ein Verbot mitgegeben: „Wenn Du drüben bleibst, lasse ich mich scheiden.“ Also kehrte ich in die verfallende August-Bebel-Straße nach Leipzig zurück.
Und dann war die Mauer offen. Einfach so. Weil einer sich verquatscht hatte. Oder er hatte sich nicht verquatscht. Keine Ahnung. Alles fuhr los gen Wessiland, Begrüßungsgeld abholen. Neugeborene und Sterbende: alle mussten mit, jeder Hundertmarkschein zählte. Auch wir waren unterwegs in einem so überfüllten Zug, dass die Angestellten der Reichsbahn mit Megaphonen außen vorbeiliefen, um mitzuteilen: „Die Achsenlast dieses Zuges ist überschritten. Mitreisen auf eigene Gefahr.“ Der Zug brauchte sechs Stunden statt derer zwei nach Berlin. Unser großes Kind, ein damals 14-jähriger Junge, kaufte nichts und weinte abends, weil er nichts gekauft hatte: Er konnte sich zwischen all den Sachen einfach nicht entscheiden. Das kleinere Kind, ein 10-jähriges Mädchen, kaufte sofort ein Skateboard für 99,90. Alles kostete 99,90. Oder 9,99. Prima billig. Und so schön bunt hier. Die Fahrt zurück (wieder 6 Stunden) war horrorhaft: betrunkene Väter, übermüdete, hungrige, ständig erbrechende Kinder, die über die Köpfe der überreizten Erwachsenen zur Toilette durchgereicht werden mussten: es war furchtbar. Nie wieder, sagte ich zu mir selbst und nahm wieder vor dem Fernseher Platz.
Was dann folgte, war die langjährige schmerzhafte Auflösung des Komponistenverbandes, die schwierige Etablierung neuer Strukturen im Kulturleben, die mühsame Eingliederung der eigenen Person in das, was im Konzert- Theater- und Medienbetrieb wieder möglich wurde oder nicht mehr möglich war. Das Thema wird Gegenstand der nächsten Folge sein.Wandlitz, der frühere Hassort aller Berliner, das „Städtchen“ der allmächtigen Greise, ausgerechnet Wandlitz ist unsere neue Heimat geworden. Ein echter Witz der Geschichte für einen alten Leipziger Bürgerrechtler. Und eine gute Adresse, denn jeder kennt den Ort. Es gibt Rehe und Einkaufszentren in fußläufiger Entfernung. Es gibt gutes Bier und nette Bewohner. Es gibt jetzt Telefon für alle, 4 Autowerkstätten und 300 Kanäle im Fernsehen. Acht Ärzte gibt es auch. Und den üblichen ununterbrochenen Parteienkrieg um Posten und Macht auf allen Ebenen gibt es auch.
Festgehalten werden muss: ohne Kohl und Gorbatschow wäre es nicht gegangen und ohne die Milliarden von Euch Wessis, ohne die personelle und technologische, zugegebenermaßen auch manchmal ziemlich bürokratische Unterstützung wäre es auch nicht gegangen. Diese Tatsache vor allem sollte man niemals vergessen. Aber manches andere, das schon.
Lesetipp:
Ziemlich beste Deutsche,
Spiegel Sonderheft Nr. 39a