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Wie wichtig ist Musik?

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Versuche einer realistischen Einordnung – Teil 2
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Die ganze romantizistische Manie um das Ich, um die eigene Person, hat in den letzten Jahren hypertrophe Auswüchse angenommen. Die Wahrnehmung der Welt wird nur noch durch die Konstruktion des eigenen Ichs, in seinen Bezügen zum Ich gesehen. Ob es so etwas wie eine „objektive Realität“ überhaupt gibt, interessiert nicht mehr (ganz zu schweigen davon, sich daran „abzuarbeiten“), sondern nur noch, was die „Realität draußen“ mit meinem Selbst drinnen zu tun hat.

Dort entstehen die Relevanzen. Bezogen auf unsere Branche heißt das, dass die Befindlichkeit des jeweils Einzelnen der alleinige Maßstab ist, um etwas zu tun. Oder eben auch nicht. Und dieses Etwas darf der Selbstwahrnehmung und Selbstbeschäftigung nicht störend im Weg stehen. Wenn es zum Beispiel ein etwas komplexerer Fingersatz ist, den man anwenden muss, um eine schwierige Stelle in einer Komposition meistern zu können, geht man diese äußere Realität nicht als Aufgabe an, sondern ignoriert sie, weil sie einem ganz konkret nicht zur Wahrung der Selbstbezüglichkeit dient: Schändlich, man muss sich mit etwas auseinandersetzen, das zunächst nichts von einem weiß, dem das eigene Selbst völlig egal ist – die Noten stehen stumm auf dem Papier und warten auf meine Beschäftigung mit ihnen. Welch Affront! Also werfe ich das Notenblatt in den nächsten Papierkorb und suche im reichhaltigen Buffet des musikalischen Angebots etwas, was meiner Befindlichkeit mehr entspricht und sie unterstützt, und zwar möglichst ohne große Anstrengung. So mutiert der Instrumentalunterricht zum oberflächlich- harmlosen Unterhaltungsevent: Wellness.

Jede Instrumentallehrkraft kennt Schüler (und Eltern!) mit solchen Sichtweisen. Schüler, die geprägt sind von eben dem „asozialen Individualismus, der nur noch die eigenen Bedürfnisse befriedigen will“, wie Dr. Zimmer es trefflich beschrieben hat. Zurücknahme eigener Befindlichkeiten, ja Arbeit, Blut, Schweiß und Tränen, um eine vertrackte Komposition möglichst sachgerecht (sic!) zu realisieren? Fehlanzeige. „Wenn mir ein Stück nicht gefällt, beende ich den Unterricht sofort!“, hat mir ein 15-Jähriger Schüler mal ungeschminkt gesagt. Und da in den Musikschulen mittlerweile auch die Controller das Sagen haben, künstlerisch- pädagogische Aspekte randständig geworden sind und nur noch zählt, was die Zahlen hergeben (die nämlich immer stimmen müssen), also Schüler um jeden Preis gehalten werden müssen, verfällt so manche langgediente Lehrkraft in Resignation, innere Emigration oder versucht über Altersteilzeit et cetera möglichst früh dem Frust zu entkommen. Wie heißt es so schön von desillusionierten Praktikern - im Klavierunterricht kann man weite Strecken des Unterrichts bestreiten mit „Amélie“, „River flows in you“ und dem Anfang von „Für Elise“, mehr braucht es nicht. Von weitergehenden künstlerischen Aspekten ganz abgesehen, die werden offenbar, da jenseits der subjektivistischen Freizeitbespaßung befindlich, immer weniger gefragt. „Spaß“ hat „Bildung“ mittlerweile ausgeknockt. (Die moderne Hirnforschung scheint das mit ihrer Theorie der neuronal- hormonellen Mechanik – Stichwort „Dopamindusche“ – auch noch zu untermauern.) Weitergehende pädagogische Kenntnisse – von Details frühbarocker Verzierungstechnik ganz zu schweigen – sind nicht vonnöten. Derartig hochqualifiziert würde der Unterricht auch zu teuer werden. Wenn das die im Entstehen befindliche Hauptrichtung ist, braucht man keine gut ausgebildeten Fachkräfte mehr, dann reicht es, wenn man als Hobbymusiker einen Sechs-Monate-Lehrgang an einer privaten Akademie absolviert hat. Ein Großteil der Schüler wäre damit auch zufrieden. Hier könnte der Staat einiges einsparen, würde man die Anzahl der offenbar (auch bezogen auf die Arbeitsmarktzahlen und die beruflichen Chancen der Studierenden) überflüssigen, weil nicht benötigten Musikhochschulen um zum Beispiel die Hälfte verringern. Zumindest einige Straßen und Brücken könnte man von den dann freien Geldern sanieren. Und so mehr Bürger zufrieden stellen, schließlich ist Demokratie vom Mehrheitsprinzip geprägt. Den Schülern ist es eh meistens recht, anspruchsloser, auf schnelle Soforterfolge fixierter „Unterricht“, der leicht konsumierbar ist, wird offenbar immer stärker nachgefragt.

Sind die so?

Sind „die Schüler“ so? Alle so „anders“, gar „komisch“ geworden? Waren sie früher wirklich besser? Natürlich nicht. Aber bestimmte Grundübereinstimmungen gelten nicht mehr. Der aus heutiger Sicht fast folkloristisch anmutende Aspekt des Antiautoritären in der Nachfolge der sogenannten 68er-Bewegung hat offenbar subkutan doch mehr bewegt, als man es für möglich hielt. Der alte Schlager von Gitte „Ich will alles, ich will alles, und zwar sofort“ ist heute als grundlegendes gesellschaftliches Paradigma kaum noch infrage zu stellen. Und das beginnt im Kleinkindalter, wenn man die Kinder ständig fragt, ob sie lieber spielen oder schlafen wollen, ob sie hier sitzen oder draußen schaukeln möchten, ob sie lieber den Tee oder den Saft möchten, ob sie lieber….. Permanent werden Kindern so Entscheidungen abverlangt, zu denen sie meistens noch gar nicht in der Lage sind, von denen sie überfordert werden, auch in der Menge und Häufung von Entscheidungslagen. Und so lernen sie, dass ihre eigene Befindlichkeit der alleinige Maßstab ist, dass nur das eigene Wollen (oder eben nicht) die Richtung vorgibt, alles andere, was stören könnte, wird beseitigt oder ignoriert. Um nicht missverstanden zu werden: Kitas in kleine Kasernenhöfe umzufunktionieren, wäre grotesk und kontraproduktiv. Aber deutlichere Leitplanken, klare Regeln zur Entlastung des Kindes wären notwendig, Regeln, die Räume definieren, in denen Kinder ihrem Alter gemäß sich frei bewegen können. Der Mainstream der heutigen Mittelschichts-Pädagogik setzt jedoch genau entgegengesetzte Akzente.

Die allgegenwärtige Einbindung des Kindes in Entscheidungsprozesse, die übertriebene Rücksichtnahme auf dessen Befindlichkeit, dient weniger – wie angestrebt – der eigenständigen Entwicklung, sondern eher der demonstrativen Entlastung von Eltern und Erzieherinnen. Die erste mit diesem Mainstream groß gewordenen Generation (die sogenannte Generation Y) erobert langsam den Arbeitsmarkt, mit allen Folgen, die noch nicht absehbar sind: weniger „work“, mehr „life“ und vor allem „balance“. Wer jedoch die für die Aufrechterhaltung des gesamtgesellschaftlichen Wohlstandes und der Sozialsysteme notwendige Arbeitsleistung vollbringen soll, bleibt unklar. Und wie in der verkehrstechnischen Infrastruktur leben wir auch mental und gesellschaftspolitisch bereits von der Substanz. Was für ein Erbe hinterlassen wir da den nachkommenden Generationen?

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