Dreimal begegnete ich Krzysztof Penderecki. Er war der Gott von uns jungen Ost-Komponisten, denn er hatte 1959 drei Werke beim Wettbewerb junger polnischer Komponisten eingereicht, die alle drei angenommen und prämiert wurden. Schon diese Tatsache allein verschaffte ihm ungeheueres Prestige bei uns. Noch ehrfürchtiger wurden wir beim Anblick der Partituren: große leere Stellen bei den Instrumenten, die nicht spielten, riesige, seitenlange grafische Balken-Notationen mit dickem Filzstift über ganze Systeme, neu gehörte, nie gesehene Spielanweisungen, die nun alle sofort nachmachten, oder besser formuliert, nachmalten. Nur bei den Filzstiften haperte es: Es gab sie einfach nicht.
1961 war Pendereckis Werk „Threnos. Den Opfern von Hiroshima“ uraufgeführt worden und verbreitete sich schnell in der Welt. In der DDR verbreitete es sich langsamer. Niemand wollte sich damit beschäftigen, bis schließlich Christian Ewald, der damalige Leiter der Jenaer Philharmonie das Stück auf das Programm setzte. Wir alle fuhren nach Jena. Denn Jena war zu dieser Zeit und bis zur Wiedervereinigung immer ein Hort des politischen Widerstandes, aber auch der Beschäftigung mit moderner Kunst gewesen.
Penderecki kam etwas später anlässlich einer Uraufführung im Gewandhaus nach Leipzig. Nach der Premiere gab es ein Bankett und Penderecki wurde vom Kultursekretär der Stadt gefragt, warum sein Werk so anders klinge und ob er nicht von den Erfahrungen der sowjetischen Genossen lernen wolle. Penderecki hielt daraufhin einen langen Vortrag über Chicago, wo seine Oper „Paradise Lost“ (nach John Milton) gerade herausgekommen war. Auf die Frage des Apparatschiks ging er nicht ein. Wir bewunderten ihn.
Tags darauf hielt der Meister eine Vorlesung vor den Professoren und Studenten der Leipziger Musikhochschule. Unter anderem sagte er, dass er nicht verstehen könnte, dass heute noch Komponisten für Fagotte und Waldhörner schreiben. Zwei Tage später hing in der Leipziger Musikhochschule ein Aushang, auf dem stand, dass der Hauptfachunterricht in den Fächern Fagott und Waldhorn planmäßig fortgesetzt würde. Offenbar hatten in dem Gespräch mehr Leute zugehört als die Musiker und wir jungen Komponisten; einer hatte alles weitergemeldet und damit eine Panikreaktion in der Verwaltung ausgelöst.
Anschließend gab es für uns Studenten eine eilig angesetzte Sonder-Vorlesungsreihe ,,Neue Musik”. Präzise wurden insbesondere die ,,spätbürgerlichen” Techniken der polnischen Komponisten und insbesondere die von Penderecki analysiert und festgestellt, dass diese musikalischen Techniken keine Bereicherung der Nationalkultur der DDR darstellen könnten. Zwar wäre die Aleatorik als Gestaltungstechnik bereits etabliert, aber die polnischen Kollegen hätten dann doch zu viele Werke mit zu hohem Geräuschanteil geschrieben. Bei der Kammermusik kam man zum Schluss, dass die Gattung des Streichquartetts mittlerweile erschöpft und das Bläserquintett im Schaffen eines hier namentlich nicht zu erwähnenden ,,führenden” Kollegen bereits zur letzten Reife gekommen sei. Denkbar wären lediglich nur noch Ergänzungen zum Repertoire, zum Beispiel von ungewöhnlichen Instrumenten, beziehungsweise in ungewöhnlichen Kombinationen gespielt. Ansonsten seien in Zukunft wieder die sowjetischen Komponisten zu studieren und die Werke von Marx und Engels. Basta!
Kurz nach der Uraufführung seines Violinkonzerts in Basel mit Christiane Edinger trafen wir in Krakau in der Hochschule kurz zusammen. Es gab schon die Vorformen der späteren mächtigen Gewerkschaft Solidarnosc. Die Arbeiter streikten häufig oder bummelten oder zeigten uns gegen Geld die Stadt. In der Hochschulmensa gab es nahezu nichts zu essen, auch anderswo nicht, aber alle waren fröhlich, optimistisch und voller Zukunftshoffnung. Der Prorektor zeigte uns das neue elektronische Studio und sagte voller Stolz: „Das haben wir alles für Penderecki gebaut. Es ist das Modernste in ganz Europa. Aber der Rektor schreibt gerade tonale Opern. Er will wie Wagner sein.“ Wir schwiegen und schwiegen noch, als Penderecki kam und einen langen Vortrag hielt, wie etablierte polnische Komponisten auf der ganzen Welt jungen polnischen Komponisten helfen würden, im Ausland Fuß zu fassen und aus Polen herauszukommen. Wir schwiegen beschämt und voller Neid auf die Kollegen, denn diese Möglichkeiten würden sich uns nie eröffnen. 20 Jahre später fiel die Mauer und die Welt war offen für alle. Auch für uns.