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Dem Fremden begegnen

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Zur Jahrestagung der Gesellschaft für Musikpädagogik vom 18. bis 19. März 2016
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Die Begegnung mit anderen, fremden Musikkulturen im pädagogischen Kontext sowie die Auseinandersetzung mit dem Eigenen und dem Fremden standen im Fokus der diesjährigen Jahrestagung der Gesellschaft für Musikpädagogik in Kooperation mit dem Institut für Europäische Musikethnologie an der Universität zu Köln.

Hochschuldozenten, Doktoranden und Praktiker aus den Bereichen Musikpädagogik und Musikethnologie präsentierten in vielfältigen Beiträgen Forschungsperspektiven, musikpädagogische Ansätze und Projekte zum Thema „Musikkulturen und Lebenswelt“.

Einleitend stellte Prof. Dr. Klaus Näumann die Bedeutung von Feldforschung in der Geschichte musikethnologischer Forschung dar und berichtete über seine Forschungen zur Mento-Musik in Jamaika, die heute fast ausschließlich zur Unterhaltung von Touristen praktiziert wird. Der direkte Kontakt mit Mento-Musikern sei unabdingbar, um deren Intentionen, Praxen und Rezeptionsformen zu erfahren.
Auch Johann Gottfried Herder ging ins Feld, um Volkslieder zu sammeln und zeuge somit von einer Affinität zu anderen Völkern. Wolfgang Welsch hingegen fasse Herders Zwei-Kugel-Modell als Gegenmodell zu Transkulturalität auf, da Kulturen analog zu Kugeln geschlossen seien und Fremdes ausschließen würden. Prof. Dr. Alexander J. Cvetko konstatierte, dass in der aktuellen Herder-Rezeption in der Musikpädagogik Fehlauffassungen über Herder verbreitet seien, plädierte folglich dafür, das Bild Herders richtig zu stellen und mahnte vor unkritischer Übernahme bei wissenschaftlicher Arbeit.

Dr. Christina Zenk referierte über kulturelle Kontexte von Musik und Mode. Die vielfältigen Spielarten von Musik und Mode könnten zu einer lebendigen Auseinandersetzung mit Musik und ihren Kontexten führen und den eigenen Musikhorizont erweitern.

Deutschen Chören auf der Krim, deren Repertoire deutsche volkstümliche Lieder und Volkslieder umfasst und die zwecks deutscher Außenwirkung in Trachten auftreten, widmete sich Dr. Andreas Kloth in seinem Vortrag.

Dem Tagungsschwerpunkt „Musikethnologische Studien“ folgten Beiträge zu „Musikkulturen zwischen Medialität und Lebenswelt.“ Fast alle Musikkulturen im Musikunterricht seien für Schüler/-innen fremd, so Dr. Jan-Peter Koch. Im Vermittlungsprozess von Musikkulturen sei das Moment der Authentizität von Bedeutung, wobei Koch zwischen materialer und personaler, künstlerischer und pädagogischer Authentizität unterscheidet.

Matthias Krebs und Marc Godau präsentierten ihr Forschungsprojekt app-2music, bei dem Schüler/-innen unter Anleitung professioneller Musiker mit Apps in Appmusik-AGs an Berliner Schulen musizieren. Prof. Dr. Philipp Ahner konstatierte eine Diskrepanz zwischen der Bedeutung, die Jugendliche dem schulischen Musikunterricht beimessen, und musikbezogenen Umgangsweisen von Jugendlichen und hinterfragte, welche Motivation Schüler/-innen dazu bringt, Musikunterricht zu wählen und wie mobile Endgeräte in selbstgesteuerten, kooperativen Lern-arrangements im Musikunterricht gewinnbringend eingesetzt werden können. PD Dr. Christofer Jost regte an, eine Hitparade der YouTube-Stars im Musikunterricht durchzuführen und dabei den ästhetischen Reiz der jeweiligen Clips, die Rechtswidrigkeit der öffentlichen Wiedergabe vieler Coverversionen und das Für und Wider der Coverpraxis zu diskutieren.

YouTube sei eine Videoplattform interkultureller Begegnung: Der Darstellungsmodus der Clips sei weltweit verständlich, die Bildästhetik, Sprache, Instrumentation und Spieltechnik von Coversongs hingegen weise ein hohes Maß an Vertrautheit zwischen Akteuren gleicher Herkunft auf. Mit der Frage nach der Rolle der Vermittlung von „fremder“ Musik und einem Einblick in die Relation der Begriffe „das Eigene“ und „das Fremde“ leitete Prof. Dr. Constanze Rora den dritten Themenblock ein. Bezugnehmend auf Jürgen Vogt sei das Fremde ein notwendiger „Stachel“, um sich mit dem Eigenen auseinanderzusetzen. Durch gemeinsames Musizieren Vorurteile abzubauen, Toleranz zu stärken und ein Gemeinschaftsgefühl zu entwickeln, sind Ziele des von Prof. Dr. Thomas Greuel und Dr. Marichen Van der Westhui-zen präsentierten Kooperationsprojekts der EFH Bochum und des Hugenote Kollege Wellington.

Andrea Bücker stellte das Klassik- und Folklore-Programm von El Sistema in Venezuela vor und schlussfolgerte, dass die venezolanische Folkloremusik durch das Folklore-Programm nicht gerettet, aber konserviert werden könne. Klassische Musik sei fremder als Musik vieler anderer Kulturen. Anselma Lanzendörfer und Prof. Dr. Katharina Schilling-Sandvoß reflektierten Chancen und Herausforderungen eines Vermittlungsprojekts zwischen Schule, Hochschule und Alter Oper Frankfurt, in dessen Rahmen Jugendliche die Fremdheit eines Konzertbesuchs als Ereignis selbst wahrnehmen sollen. Die Förderung von Kreativität und Entrepreneurship durch Musik, Performance und außerschulische Partner sind Prioritäten des von Prof. Dr. Georg Brunner und Susanne Kittel vorgestellten Erasmus+-Projekts Musik kreativ +, an dem Partnerschaften zwischen Universitäten, Schulen und professionellen Musikensembles aus Deutschland, Frankreich, Tschechien und Ungarn beteiligt sind. Die originäre Begegnung von Schülerinnen und Schülern mit nicht vertrauten Musikkulturen (z.B. Neue Musik) scheine zur Anregung eigener Kreativität geeignet. Dass als Kulturpartner von Schulen nicht nur Opernhäuser und Musikensembles, sondern auch Museen fungieren, zeigte Eva Fink in ihrem Beitrag über Inhalte, Methoden und Ziele von pädagogischen Begleitmaterialien zu Musikmuseen auf. Welche Rolle Musik in der Vermittlungsarbeit von Musikmuseen spiele, gelte es zu hinterfragen.

Claudia Heuger analysierte Musiklehrwerke der Primarstufe hinsichtlich der Thematik Lateinamerika. Neben Musik aus Lateinamerika werden in Lehrwerken auch kulturelle Hintergründe beleuchtet, wobei Lateinamerika in Lehrwerken und in der Musikdidaktik insgesamt eine Randstellung einnehme.
Den letzten Themenblock bildeten Beiträge über Eigenes und Fremdes, ein Begriffspaar, das in den 1990er-Jahren in pädagogischen Kontexten auftauchte. Die Begriffe spielen aktuell unter anderem eine Rolle bei Projekten mit Flüchtlingen, so Prof. Dr. Katharina Schilling-Sandvoß.

Interkulturell orientierter Musikunterricht strebe eine Annäherung an fremdartige, unvertraute Musikpraxen an. Die Toleranz gegenüber „fremder“ Musik ist Gegenstand von Musikpräferenzstudien, die Dr. Oliver Kautny in seinem Vortrag diskutierte.

Das Projekt Kulturelle Teilhabe im Rahmen der Studie WilmA untersucht die Weiterentwicklung der kulturellen Teilhabe ehemaliger JeKi-Kinder nach Übergang in die Sek. I. Prof. Dr. Andreas Lehmann-Wermser und Valerie Krupp-Schleußner stellten fest, dass die Korrelation zwischen kultureller Teilhabe und Zufriedenheit musikalischer Möglichkeiten signifikant, aber gering sei. Individuum und Habitus sollten folglich enggeführt, aber nicht gegeneinander ausgespielt werden.

Dr. Christoph Stange referierte über das musikpädagogische Potenzial von Bewegungen zu Musik. Mittels musikbezogener Bewegungen könnten neue Bedeutungszuschreibungen der Musik entdeckt werden.

„Look at the crutches and don’t form opinions!“ Mit diesem Appell endete Dr. Daniela Laufer ihren Vortrag über Musiker mit Behinderung, in dem sie anhand von Autobiographien Einblicke in die Eigensicht der musikalischen Lebenslage und Lebenswelt dreier Musiker mit Behinderung gab.

Abschließend thematisierte Dr. Ralf-Olivier Schwarz das Fremde und das Eigene in Geschichts- und Musikdidaktik und konstatierte, dass die Musikdidaktik von der Geschichtsdidaktik lernen könne. So müsse bei musikgeschichtlichen Themen hinterfragt werden, was in der Vergangenheit selbstverständlich war und was in der Gegenwart selbstverständlich ist.

Die Tagung zeichnete sich durch einen regen Austausch über die mannigfaltigen Beiträge zum breitgefassten Tagungsthema „Musikkulturen und Lebenswelt“ aus.

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