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Gegenstandsbezug musikpädagogischer Praxis

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Call for Papers zur Jahrestagung der GMP März 2024, vorbereitende Tagung am 16. September 2023
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„Die Liebe ist keine Kartoffel – man kann sie nicht aus dem Fenster werfen“.

Das russische Sprichwort bringt Liebe als Gefühl, Zustand vielleicht auch Idee in Gegenüberstellung zu einem dinglichen, materiellen Gegenstand. Es greift dabei auf die allgemeine Auffassung von Dingen zurück, die Dinge als Objekte menschlichen Handelns auffasst. Die Kartoffel des Sprichworts ist unlebendig, aus jeglichem Zusammenhang losgelöst und der Willkür des subjektiven menschlichen Agens anheim gegeben. Dieser Sichtweise auf die dingliche Umwelt wird von kulturwissenschaftlicher Seite unter dem Label ‚material turn‘ ein anderer Blickwinkel entgegengehalten, der den „Eigensinn der Dinge“ (Hahn 2015) in den Vordergrund rückt oder sogar Dinge als  gleichberechtigte „Akteure“ in Handlungsabläufen auffasst (Latour 1998). Die Dinge erscheinen in dieser Betrachtung nicht als Einzeldinge, sondern werden im Zusammenhang betrachtet – in ihrer Zugehörigkeit zu „Netzwerken“ (Latour) oder „Assemblagen“ (Hahn). Mit diesem Paradigmenwechsel geht das Versprechen einher, Aussagen zur „eigene(n) Fähigkeit, Dinge zu erkennen“ sowie „Einsicht in bislang übersehene Aspekte der materiellen Umwelt“ zu erhalten (Hahn 2015, S.13). Im Hinblick auf die genannte Kartoffel erhalten nun – bezogen auf den situativen Zusammenhang – Fragen der Wertzuweisung, Verhaltensnormen, Transformation sowie auch der Passung von Körper und  Dingverwendung Aufmerksamkeit.

In den Bildungswissenschaften (Meyer-Drawe 1999, Nohl/Wulf 2013, Rabenstein 2018, Zirfas/Klepacki 2013) und auch in der Musikpädagogik (Campos 2019, Godau 2018, Kranefeld 2019) findet dieser den Eigensinn der Dinge berücksichtigende Blickwinkel einen positiven Widerhall. Auch hier geht es darum, neue Einsichten zu erhalten, wobei die Aufmerksamkeit den sozialen Konstellationen gilt. Anstatt von einem selbstbewussten allmächtigen Subjekt auszugehen, richtet sich das Interesse auf „Momente von Subjektivierungsweisen“, das heißt auf die Frage, „wie Subjekte im Tun mit Dingen und Tun durch Dinge – und indem sie sich im Umgang mit den Dingen in ein Verhältnis zu sich und zu den Dingen setzen – zu denen werden, als die sie im Tun in Erscheinung treten“ (Rabenstein 2018, S. 31) in den Vordergrund.  Dinge und Subjekte erscheinen so gleichermaßen als Teile eines performativen Geschehens, durch das sie beide bestimmt werden. Es ist die performative Seite der Dinge, die „für Bildungsprozesse, das heißt für Entwicklung und Transformation von Selbst-, Welt- und Anderenbeziehungen bedeutsam sind“ (Zirfas/ Klepacki 2013, S. 46). Ihrer „Mitwirkung […] an unserem Verständnis von ihnen“ (Meyer-Drawe 1998, S.  331) soll auf die Spur gekommen werden, indem „die Gegenüberstellung von Mensch und Welt unterlaufen und ihre Verwicklung für die Theorie zurückgewonnen wird“ (ebd. S. 332). Die Beobachtung unserer Vernetztheit mit den Dingen bildet umgekehrt einen nicht unwesentlichen Aspekt der Frage nach dem Status des Subjekts in pädagogischen Prozessen, die in jüngster Zeit auch in der Musikpädagogik diskutiert wird (Heß et al. 2020).

Der Blick auf die Dinge in ihrer Performativität legt für die Reflexion konkreter musikpädagogischer Situationen nahe, nicht nur nach Dingen des Hantierens und didaktischen Hilfsmitteln wie Notenständer, Blockflöte oder digitalen Endgeräten zu fragen, sondern auch Musikstücke als lokalisier- und identifizierbares  Dies-Da  in die Betrachtung einzubeziehen. Wandelnde Bedeutungs- und Funktionszuweisungen, transformierende Wirkungen sind auch in Bezug auf musikalische Werke, Musikstücke, Lieder ein bekanntes Phänomen, die allerdings als „Erscheinungsdinge“ (Figal 2010) ohne die Verbindung mit einem nachvollziehend rezipierenden Individuum bestenfalls in einem schematischen unspezifischen Sinne als Musik gelten können. Spielen sie in vergleichbarer Weise wie räumliche Dinge als eigensinnige, wandelbare, instabile Akteure in unser Handeln hinein?

Während die Autoren des material turn die Netzstruktur der materiellen Umwelt und die Einbettung der Dinge und Handlungen in einen sozialen Raum hervorheben, wird im ästhetischen Diskurs auf die „Insularität“ der durch ästhetische Gegenstände hervorgerufenen „Momente der Intensität“ (Gumbrecht 2004, 120) verwiesen, die ihren Ort „notwendig in einer gewissen Entfernung von diesen Alltagswelten haben“ (ebd. S. 122).  Musikstücke gehen nicht auf in der lebensweltlichen Vernetzung, sondern erfordern Distanz; sie gehören nicht nur zur Umwelt, sondern „ragen aus dieser hinaus“ (vgl. Figal 2009, S. 269 f.) und erscheinen für sich, indem sie die Aufmerksamkeit auf ihre Materialität und Beschaffenheit lenken. So werden sie zu Gegenständen, die beharren und der Betrachtung standhalten.

Eine ihren Dingbezug reflektierende Musikpädagogik ist somit in das Spannungsfeld gestellt, einerseits Musik als soziales, Beziehungen stiftendes, alltägliches Medium in seinen Transformationen pädagogisch und forschend zu erkunden und andrerseits Zugänge zu der gegenständlichen, der Lebenswelt abgewandten Seite von Musikstücken zu öffnen und zu diskutieren. Wie bringen sich jeweils konkrete Musikstücke in jeweils konkrete pädagogische Prozesse und Situationen ein, wie verändern sie sich und wie machen sie sich in ihrer Nicht-Alltäglichkeit bemerkbar?

Die GMP lädt dazu ein, dieses Spannungsfeld zu erkunden und auszuloten. Gefragt sind theoretische oder empirische Forschungsansätze, die sich mit Beispielen, Phänomenen, wiederkehrenden oder neuen Konstellationen und Problemen in diesem Feld auseinandersetzen ebenso wie didaktisch-konzeptionelle Überlegungen und Fallbeispiele.

Vorbereitend auf die Potsdamer Tagung vom 15. bis 17. März 2024 wird am 16.09.2023 eine eintägige, vorrausichtlich digitale Arbeitstagung stattfinden, die der Diskussion der Exposés dient. Interessentinnen und Interessenten reichen bitte ihr ein- bis zweiseitiges Exposé bis zum 1. März 2023 bei der unten genannten E-Mail-Adresse ein und halten sich neben dem oben genannten Termin im März 2024 auch bitte den 16. September 2023 frei.

Kontakt: constanze.rora [at] hmt-leipzig.de (constanze[dot]rora[at]hmt-leipzig[dot]de)

Literatur

Campos, Samuel (2019): Praktiken und Subjektivierung im Musikunterricht. Zur musikpädagogischen Relevanz praktiken- und subjekttheoretischer Ansätze. Wiesbaden: Springer Fachmedien

Figal, Günter (2009): Verstehensfragen. Studien zur phänomenologisch-hermeneutischen Philosophie. Tübingen: Mohr Siebeck

Figal, Günter (2010): Erscheinungsdinge. Ästhetik als Phänomenologie. Tübingen: Mohr Siebeck

Godau, Marc (2018): Wie kommen die Dinge in den Musikunterricht? Zur Materialität musikpädagogischer Praxis am Beispiel divergierender Orientierungen im Kontext unterrichtsbezogenen Handelns angehender Lehrkräfte. In: Bernd Clausen/ Susanne Dreßler (Hg.) Soziale Aspekte des Musiklernens. Münster: Waxmann 2018, S. 43-55 (Musikpädagogische Forschung; 39)

Gumbrecht, Hans Ulrich (2004): Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz. Frankfurt a.M.: suhrkamp

Hahn, Hans Peter (2015): Vom Eigensinn der Dinge – Einleitung. In: (Ders.) Hg.: Für eine neue Perspektive auf die Welt des Materiellen. Berlin: neofelis

Heß, Frauke/ Oberhaus, Lars/ Rolle, Christian (2020): Subjekte musikalischer Bildung im Wandel. Einführende Überlegungen. In: Dies. (Hg.): Subjekte musikalischer Bildung im Wandel. Sitzungsbericht 2019 der Wissenschaftlichen Sozietät Musikpädagogik
    In: Zeitschrift für Kritische Musikpädagogik. Online verfügbar unter http://www.zfkm.org/

Kranefeld, Ulrike/Mause, Anna-Lisa/Duve, Jan (2019): Zur Materialität von Prozessen des Musik-Erfindens: Interaktions­analytische Zugänge zur Wandelbarkeit der Dinge. In:  Verena Weidner/ Christian Rolle (Hg.): Praxen und Diskurse aus Sicht musikpädagogischer Forschung. Münster: Waxmann, S. 35–50 (Musikpädagogische Forschung; 40)

Latour, B. (1998). Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie. Frankfurt a. M.: Fischer.

Nohl, Arnd-Michael/ Wulf, Christoph (2013): Die Materialität pädagogischer Prozesse zwischen Mensch und Ding. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft  (ZfE) 16, S. 1–13

Meyer-Drawe, Käte (1999): Herausforderung durch die Dinge. Das Andere im Bildungsprozeß. Zeitschrift für Pädagogik 45 (1999) 3, S. 329–336

Rabenstein,  Kerstin (2018): Wie schaffen Dinge Unterschiede? Methodologische Überlegungen zur Materialität von Subjektivationsprozessen im Unterricht. In: Anja Tervooren/Robert Kreitz (Hg.): Dinge und Raum in der qualitativen Bildungs- und Biographieforschung. Opladen: Barbara Budrich, S. 15–35

Rora, Constanze (2022): Dinge, Klang, Klangobjekte in der musikalisch-ästhetischen Erziehung. In: Heike Thienenkamp/ Johannes Voit (Hg.): Im Dialog mit den Dingen. Perspektiven und Potentiale ästhetischer Bildung.Bielefeld: transcript  2022, S. 19–33

Zirfas, Jörg/ Klepacki, Leopold (2013): Die Performativität der Dinge. Pädagogische Reflexionen über Bildung und Design. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft (ZfE) 16, S. 43–57

 


 

 

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