Dr. Alexander Cvetko verglich Konzepte zum Umgang mit Schulliederbüchern im Musikunterricht des späten 18. und frühen 21. Jahrhunderts. Ausgehend von Sigrid Abel-Struths Wissenschaftsbegriff stand die Beob-achtung von Praxis im Mittelpunkt am Beispiel von Schulliederbüchern und indizierten Liedern. Zur Kontrastierung stellte Cvetko das erste für Schulen veröffentlichte Liederbuch, „Lieder für Volksschulen“ (1793) von August Ludwig Hoppenstedt, dem aktuellsten Schulliederbuch von Friedrich Neumann und Stefan Sell (2011) gegenüber. Einen Einblick in den jeweilig gewünschten Unterricht gaben die praktischen Anweisungen von Hoppenstedt aus den Jahren 1803 und 1808 und der Lehrerband zum aktuellen Schulliederbuch von Hügel (2012).
Anhand beispielhafter Artikulationsschemata könne ein starker Paradigmenwechsel festgestellt werden: Während das Lied bei Hoppenstedt lediglich Mittel zum Zweck sei, nämlich die Erziehung der Schülerinnen und Schüler zur Tugend und Unschuld, stehe bei Hügel die musische Erziehung und die Vermittlung bzw. Anwendung von musiktheoretischen Grundlagen im Mittelpunkt. Hoppenstedts Instrumentalisierung des Textes sei heutzutage nicht mehr erwünscht, die Thematisierung des Inhalts jedoch gänzlich zu vernachlässigen, bringe einige Gefahren mit sich. Die Frage stelle sich, ob und inwieweit indizierte Lieder auch im Musikunterricht behandelt werden sollten. Anlehnend an die Forschungsmethode Altes mit Neuem zu vergleichen, wurden Hoppenstedts „Mutterliebe“ und Sidos „Augen auf!“ nebeneinander gestellt, die ähnlich pädagogisch motiviert seien. Im Gegensatz zu dem früheren Vermittlungsmonopol der Schule würden indizierte Lieder heute über vielfache Medien verbreitet, so dass sowohl den Lehrerinnen und Lehrern als auch den Schülerinnen und Schülern eine stärkere Verantwortung zukomme, eine höhere Kompetenz des Abwägens, welche Lieder rezipiert werden. Statt zu unterstellen, dass die Rezeption von Gangsta-Raps die Ursache für Missstände und deprivierte Lebenswelten der Rap-Fans sei, solle die Chance genutzt werden, mit den Schülern ins Gespräch zu kommen, um das Spannungsfeld zu diskutieren und die Vielfältigkeit des Musikunterrichts aufzuzeigen. Abschließend thematisierte Prof. Dr. Constanze Rora Widersprüche zwischen pädagogisch-praktischen und wissenschaftlichen Erkenntnisinteressen als Herausforderung für die musikpädagogische Praxisforschung.
Erörtert wurde die Frage, auf welche Weise das wachsende Selbstverständnis von Musikpädagogik als Wissenschaft in eine Verbesserung musikpädagogischer Praxis umgemünzt werden könne. Aufgabe der empirischen Musikpädagogik sei es, die pädagogische Praxis zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen zu machen. Allerdings gebe es Zweifel, ob die Orientierung an der empirischen Sozialforschung möglicherweise an den Bedürfnissen der Praktiker vorbeigehe. Eine Gegenüberstellung der Begrifflichkeiten Wissenschaft und Pädagogik verdeutliche die differierenden Ziele. Während wissenschaftliche Forschung auf das Allgemeine ziele, um eine vorhandene Komplexität aufzubrechen und einen Zusammenhang herauszufinden, bezögen sich Fragen der Pädagogik auf konkrete, einzelne Situationen und Personen, wobei pädagogische Wirkungen einzelner Lernfelder stets kontextabhängig seien. Die Anwendung von theoretischem Wissen auf die Praxis sei in diesem unaufhebbaren Theorie-Praxis-Spannungsverhältnis nicht ohne Weiteres möglich oder erfolgversprechend.
Ein Lösungsvorschlag, diesem Spannungsverhältnis entgegenzugehen, biete Praxisforschung, die vorwiegend im Zusammenhang mit dem Anliegen einer Professionalisierung des Lehrerberufs thematisiert werde und als Ziel eine Verbesserung der Praxis sehe. Das Beobachten des eigenen Unterrichts werde so zum Untersuchungsgegenstand und ziehe eine Distanzierung von der eigenen Rolle als Lehrperson mit sich. Praktiker selbst würden so forschend tätig. Rora differenziert zwischen Praxisforschung im engeren Sinne, die zwei aufeinander bezogene Phasen, Diagnose und Intervention, vorsieht, und Praxisforschung im weiteren Sinne, zum Beispiel bezogen auf Projekte, die ihre Fragestellung in enger Verbindung zum Praxisfeld ansiedeln und diese mit überwiegend qualitativen Forschungsmethoden bearbeiten würden. Drei allgemeine Leitgedanken der qualitativen Forschung könnten somit auf die Praxisforschung übertragen werden: Angemessenheit der Forschungsmethode in Bezug auf den Untersuchungsgegenstand, Berücksichtigung und Analyse unterschiedlicher Perspektiven auf das Feld, Reflexion der Forschenden über ihre Funktion und Subjektivität innerhalb des Forschungsprozesses. Die Tatsache, dass Theorie und Praxis als unaufhebbare Diskrepanzen in dem Begriff „musikpädagogische Praxisforschung“ zusammenfließen, gestaltete sich für die GMP als aufschlussreich.
Das fachlich breit gestreute Publikum war engagiert, so dass sich die im modernen universitätseigenen Musiksaal stattfindende Kurztagung in Siegen samt anschließender lebendiger Diskussion als wertvoller Austausch aktueller musikpädagogischer Perspektiven erwies.