„Manche leben mit einer so erstaunlichen Routine, dass es schwerfällt zu glauben, sie lebten zum ersten Mal.“
(Stanislaw Jerzy Lec: Alle unfrisierten Gedanken. München 1988)
Künstlerische Praxis und Routine
Mit dem Begriff „Künstlerische Praxis“ werden in musikpädagogischen Studiengängen üblicherweise die musikpraktischen Unterrichte klassifiziert und unterschieden von den wissenschaftlichen und wissenschaftlich-pädagogischen Lehrveranstaltungen. Sehr deutlich wird mit dieser Bezeichnung markiert, dass es um Musik als Kunst geht, wobei nicht das Werk, sondern das künstlerische Tätigsein im Fokus steht. Damit wird einerseits Musik in eine Reihe mit den anderen Künsten gestellt und andererseits ein spezifisches diskursives Feld aufgerufen, das sich um den Kunstanspruch rankt. Wann ist musikalische Praxis künstlerisch? Und wie erscheint die Dimension des Künstlerischen in der Lehre?
Die Frage ist ebensowenig auf die hochschulische Lehre begrenzt, wie der Begriff der künstlerischen Praxis auf die Bezeichnung von Studieninhalten. Vielmehr kommt in dem Begriff der künstlerischen Praxis eine Auffassung von Kunst zur Sprache, die nicht das Werk, sondern die künstlerische Tätigkeit in den Mittelpunkt der Frage nach dem Sein von Kunst stellt:
„Die Frage nach dem Sein von Kunst kann praxeologisch beantwortet werden, wenn die besondere Form des künstlerischen Tätigseins im Zentrum des Künstlerischen steht. Die Kunst ist dann wesentlich von diesem Tun her und somit das Sein der Kunst als Praxis verstanden.“ (Haarmann/Lemke 2022, 59)
Haarmann/Lemke verweisen in diesem Zusammenhang auf Gadamers Darstellung von Kunst als Spiel im Sinne eines interaktiven Geschehens, bei dem die Rezipienten zu Mitspielenden werden. In einem solchen Verständnis von Kunst ist diese nicht als objektives Resultat, sondern im künstlerischen Prozess existent und von diesem nicht ablösbar.
Musikerzeugendes Tätigsein als Gegenstand von Unterricht findet nicht nur an Hochschulen, sondern ebenso an Musikschulen, Schulen und im Privatunterricht statt. Je nach Institution und konkreter Konstellation sind an den Unterricht unterschiedliche pädagogische Anforderungen gerichtet, so dass sich auch die Frage nach dem Künstlerischen des Unterrichts jeweils unterschiedlich stellt. In der allgemeinbildenden Schule spielt das Erarbeiten von spieltechnischen Skills auf einem Instrument eine geringe Rolle gegenüber dem gemeinsamen Spielen und Erfinden von Musik in der Gruppe. Im Instrumentalunterricht ist die Ausrichtung anders. Und im informellen Lernen in Bandkontexten, in welchem häufig das tutorial-basierte Imitationslernen im Vordergrund steht, ist die Ausrichtung wiederum eine andere.
Als allgemeines Spannungsfeld kann die Anforderung gelten, den Lernenden Strategien und Regeln zu vermitteln, die ihnen über das Hier und Jetzt musikalischer Tätigkeit im Unterricht Handlungsoptionen für zukünftige Situationen des Erarbeitens und Aufführens zur Verfügung stellen. Das Gelingen des künstlerischen Prozesses in seiner Einmaligkeit gründet auf Routine als einem habituellen leibfundierten Wissen und Können. Wie die philosophische Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Routine zeigt, kann dieses sowohl als Quelle der Entfremdung bewertet werden, indem es das Individuum in eine unreflektierte Mechanisierung drängt und Authentizität verhindert, als auch als strukturierendes Element, das unser Verhältnis zur Welt stabilisiert. Welche Aspekte von Routine und Routiniertheit sind relevant für die künstlerische Praxis, welche für den Unterricht?
Wie kann eine solche Routine vermittelt werden ohne den Anspruch des Künstlerischen zu konterkarieren? Welche Regeln und Strategien unterstützen den künstlerischen Prozess?
Der Call for Papers lädt dazu ein, sich mit den Routinen künstlerischer Praxis und Unterrichte fragend, beobachtend oder theoretisierend auseinander zu setzen.
Vorbereitend auf die Tagung vom 20. bis 22. März 2026 in Frankfurt wird am 20. September 2025 eine eintägige, vorrausichtlich digitale Arbeitstagung stattfinden, die der Diskussion der Exposés dient. Interessentinnen und Interessenten reichen bitte ihr ein- bis zweiseitiges Exposé bis zum 1. Mai 2025 bei der unten genannten E-Mail-Adresse ein und halten sich neben dem oben genannten Termin im März 2026 auch bitte den 20. September 2025 frei.
constanze.rorahmt-leipzig.de (constanze[dot]rora[at]hmt-leipzig[dot]de)
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