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Lernprozesse individuell fördern

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Planung und Gestaltung schulischer Lernprozesse
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Wer versucht, Aufgaben und Ziel des Musikunterrichts in den aktuellen Vorgaben für den schulischen Musikunterricht in Hessen, repräsentiert durch Kerncurricula und Lehrpläne oder Rahmenpläne für die verschiedenen Schulformen, nachzuspüren, findet zwei Aufgabenfelder: Das Fach Musik erhält und fördert die Fähigkeit, Musik lustvoll wahrzunehmen und sich durch Musik auszudrücken. Und: Durch den Musikunterricht soll ein qualifizierter und differenzierter Umgang mit Musik gefördert werden, der Schülerinnen und Schüler zu einem offenen, sachkundigen, bewussten und kritischen Umgang mit Musik befähigt. Beide Leitbilder schließen im Begriff Umgang mit Musik sowohl musikpraktische Gestaltungsprozesse als auch Formen des Hörens und Reflektierens ein. Selbstverständlich und folgerichtig gehen diese Zielerwartungen von der Annahme aus, dass jeder Mensch ein musikalisches Potential mitbringt, das im Rahmen seiner individuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten gefördert werden kann und muss. Grundannahmen und Grundprinzipien des Musiklernens lassen sich daraus ablesen und ableiten:

Theoretische Erkenntnisse bleiben ohne Bedeutung, wenn sie nicht mit persönlichen musikalischen Erfahrungen verbunden werden können.

Musiklernen – vor allem in der Grundschule – vollzieht sich durch musikalische Handlungen, auf deren Basis begriffliches Wissen aufgebaut werden kann.

Um eine musikalisch anregende Lernumgebung zu schaffen, berücksichtigt der Musikunterricht die Vielfalt musikalischer Erscheinungsformen.

Individuell unterschiedliche musikalische Voraussetzungen und Lernwege bedingen differenzierende und methodisch vielfältige Zugangsmöglichkeiten. Dies schließt auch variationsreiche Möglichkeiten des Übens und Wiederholens ein. Neuere Lerntheorien, aber auch lernbiologische und lernpsychologische Erkenntnisse sehen Lernen als einen aktiven und kreativen Prozess , bei dem Informationen auf der Grundlage vorhandener Erfahrungen bedeutungsvoll verarbeitet werden. In diesem Sinne ist „Lehren … die Anregung des Subjekts, seine Konstruktionen von Wirklichkeit zu hinterfragen, zu überprüfen, weiterzuentwickeln, zu verwerfen, zu bestätigen etc.“1 Wissen wird also auf der Basis individueller Erfahrungen aktiv konstruiert, indem neue Erkenntnisse mit Erfahrungen verknüpft und elaboriert werden. Diesem Lernverständnis entspricht auch die oben beschriebene Bedeutung der Handlung für das musikalische Lernen, da sich demnach Lernprozesse grundsätzlich nur aus den Handlungen der Lernenden ergeben können.

Für die Planung und Gestaltung schulischer Lernprozesse hat sich die Annahme eines gemäßigten Konstruktivismus als sinnvolle Alternative  herauskristallisiert. Die diesen kennzeichnende Balance von Konstruktion und Instruktion repräsentiert auch die Balance von individuellem und gemeinsamem Lernen im MU. Wenn es im MU gelingt, die Diversität der Schülerinnen und Schüler nicht nur als Chance zur Vielfalt zu begreifen, sondern vielmehr als Voraussetzung individueller Entwicklung und gelingender Lernsituationen, dann wird das, was im Unterricht passiert, mehr als die Summe seiner Einzelteile. Gleichzeitig können gemeinsame Prozesse auf Grundlage der individuellen Stärken und Fähigkeiten entstehen. Es geht also um „individuelle Entdeckungs-, Spiel- und Erprobungsräume innerhalb des gemeinsamen und vorgegebenen Lernens“2, um individuelles Lernen unter der Fläche gemeinsamer musikalischer Lern- und Gestaltungssituationen.

Aufgabe der Lehrenden ist es, diese Pole auszubalancieren, individuelle Lernprozesse zu ermöglichen, gegenseitigen Austausch anzuregen und in gemeinsamen Lernsituationen, zum Beispiel im gemeinsamen Musizieren oder im gemeinsamen Nachdenken über Musik zusammenzuführen.

Dazu braucht es eine Haltung der Lehrperson, die ihren Blick nicht auf Defizite sondern auf die Entwicklungsmöglichkeiten der Schülerinnen und Schüler lenkt und daraus begründete Hinweise zur Gestaltung musikalischer Lernsituationen ableiten kann, die also eine aktive Rolle im Lernprozess einnimmt.

Die Ermittlung der Lernausgangslage, aus der sich begründete Schlussfolgerungen für das musikalische Lernen ergeben und der Stärken in den Lernvoraussetzungen, die mit sinnvollen Differenzierungsmaßnahmen Grundlage einer individuellen Förderung werden können, setzt voraus, dass Lehrende gelernt haben, ihre Schülerinnen und Schüler gezielt zu beobachten, dass sie in der Lagen sind musikpädagogisch zu diagnostizieren. Darunter verstehe ich einen systematischen Beobachtungsprozess, bei dem sich Musiklehrende bemühen, eine möglichst genaue Vorstellung von den individuellen Voraussetzungen und Lernzuwächsen ihrer Schülerinnen und Schüler im Zusammenhang der jeweiligen konkreten musikalischen Lernsituationen zu gewinnen.
Dies impliziert, dass Diagnose nicht nur ein Instrument zur Initiierung von Lernprozessen sein kann, sondern das gesamte Unterrichtsgeschehen begleitet. Die Hauptaufgabe der Lehrenden besteht demzufolge in einer kriteriengeleiteten Wahrnehmung und Beobachtung der Schülerinnen und Schüler, in der theoriegeleiteten Auswertung (Interpretation) der Beobachtungen und der Reflexion und möglichen Veränderung didaktischer und methodischer Entscheidungen (Ableitung von Maßnahmen). So wie eine Lerngruppe nicht per se heterogen ist, sondern Heterogenität nur in Bezug auf ein jeweils wechselndes definiertes Merkmal konstruiert wird, hängt auch die Diagnose von der Definition dieses Merkmals/dieser Merkmale ab und steht damit und mit den gesetzten Zielen in Wechselwirkung.

Selbsteinschätzungsmöglichkeiten, Kompetenzraster, Portfolios oder Lerntagebücher werden zunehmend auch in musikalischen Lernsituationen eingesetzt.

Neben einer anregenden, fordernden und fördernden Lernumgebung bedingt das Erleben des eigenen Lernfortschritts und –Erfolgs wesentlich das Gelingen von Lernsituationen. Ein Modell, das diese Erfahrung ermöglicht, ist das 2011 in Zusammenarbeit des Instituts für Qualitätsentwicklung und des Amts für Lehrerbildung in Hessen entwickelte Lernprozessmodell, das auf dem Lern-Förderkreislauf des Schweizer Pädagogen Fritz Zaugg basiert: Im Wechsel von gemeinsamen und individuellen Lernphasen initiieren Lehrkräfte Lernen und eröffnen Lernwege, die den Schülerinnen und Schülern Mitgestaltungsmöglichkeiten bieten und Orientierung geben. Kernelemente des Modells sind kontinuierliche Lernprozessdokumentationen von Schülerinnen und Schülern und Lehrenden und Situationen der Reflexion und Rückmeldung, die nicht auf bestimmte Abschnitte des Unterrichts beschränkt sind, sondern als kontinuierliche wirksame Bestandteile lernförderlicher Unterrichtsgestaltung gesehen werden. Das Modell verdeutlicht die Rolle der Reflexion im eigenen Lernprozess, auf deren Grundlage sich die Lernenden eigene Ziele setzen und weitere Arbeitsschritte geplant werden können.

Anmerkungen
1     Rolf Werning: Konstruktivismus. Eine Anregung für die Pädagogik? In: Pädagogik 7-8/1998, S. 40
2     Christoph Richter: Über die notwendige Balance zwischen individuellem, „natürlichem“, und von anderen verordnetem „künstlichen“ Lernen. In: Mechthild Fuchs; Georg Brunner (Hg.): Welchen Musikunterricht braucht die Grundschule? Essen 2006, S. 78

Der Aufsatz ist die gekürzte Fassung eines Vortrags im Rahmen der GMP-Tagung „Aktuelle musikpädagogische Herausforderungen und Perspektiven“ am 1. März 2013 in Siegen.

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