Im Zentrum der Jahrestagung der Gesellschaft für Musikpädagogik, die vom 11. bis 13. März 2022 an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover stattfand, stand der Begriff „Utopie“. Das „Nirgendwo“ der Insel Utopia des Thomas Morus, die seit Anfang des 16. Jahrhunderts ein Sehnsuchtsort von Zielen und Träumen gesellschaftlicher Verbesserung ist, wurde an diesem Wochenende aus musikpädagogischer Perspektive betrachtet. Besser als mit der Improvisation von Nicolae Gutu und Marcus Sundermeyer hätte ein solches Thema musikalisch kaum eingeleitet werden können: Zu den Clustern des Bandoneons schienen die Klänge des Violoncellos von der Empore des Hörsaals aus weiter Ferne herabzuschweben – ein akustisches Abbild eines räumlich wie zeitlich weit entfernten, immer unerreichbar bleibenden Ortes.
Die Panels gliederten die Tagung in „Räume“, in denen dieser „Nicht-Ort“ (verstanden im wörtlichen, nicht in Marc Augés Sinne) aus unterschiedlichen Perspektiven untersucht wurde: als Utopie in didaktischen Räumen, in ästhetischen und diskursiven Räumen, in institutionellen Kontexten und kommunikativen Räumen sowie als Utopie in globalen und sozialen Räumen. In vielseitigen Vorträgen und Diskussionen bildeten sich zentrale Begriffe und Gedanken heraus, die diese inhaltlichen Bereiche eng miteinander verknüpften.
Die Utopie blieb während der Tagung ein Ort, der nur durch das Denken erreichbar ist, eine „Denkmöglichkeit“ (Thomas Greuel) oder ein „imaginärer Raum des Denkens“, in dem gesellschaftlichen und künstlerischen Zwängen Widerstand entgegengesetzt, Wünschen und Hoffnungen Ausdruck verliehen werden kann (Peter W. Schatt). Die Musikpädagogik selbst wurde zumeist im „Dazwischen“ von Realität und Utopie, von Wirklichkeit und Möglichkeit, verortet: Zwischen Faktizität und Idee, Vision oder Traum, zwischen Kontinuität und Fluchtort (Dorothee Barth) oder zwischen Stabilität/Konformität und Veränderung (Corinna Müller-Goldkuhle, Constanze Rora, Volker Schindel). Auf eine faktische Angebundenheit, in der sich reale Verhältnisse und Utopie ergänzen können (Adrian Niegot), will die Musikpädagogik offenbar nicht verzichten und bewegt sich damit im Bereich von Ernst Blochs an diesem Wochenende vielzitierter „konkreter Utopie“ als einer „realen Möglichkeit“. Das „normativ Gesollte“ benötige, so Stefan Orgass, immer den Bezug zur Wirklichkeit, um epistemische Irrtümer vermeiden zu können, wie sie etwa durch den Naturalistischen Fehlschluss auftreten könnten. Das „utopische Potenzial“ guten Musikunterrichts (Luise Zuther) stand damit in der Tradition Sigrid Abel-Struths, die zwischen „idealen“ und „realen Zielen“ unterschied.
Risiken im Blick behalten
Bei allen Freiräumen, die utopisches Denken eröffnet, dürften – so wurde es immer wieder gefordert – auch die Risiken nicht aus dem Blick verloren werden, die das Infragestellen von Grundlegendem bedeutet. Nicole Besse warnte beispielsweise vor „ideologischer Starrheit“ oder dem „Verlieren in einer Traumwelt“, und in Bezug auf die Möglichkeiten konkreter institutionenübergreifender Kooperationen forderten Corinna Müller-Goldkuhle und Constanze Rora mit Blick auf die Beispiele des Projekts emsa sowie des Netzwerkes klangpol nicht nur „Utopiekritik“, sondern auch einen „Realitätscheck“.
Nicht nur Orte und Räume, sondern auch die Zeit erwies sich durchgängig als zentrales Moment jeder (musik-)pädagogischen Utopie. Bildungspolitische und gesellschaftliche Veränderungen – darauf wies HMTMH-Vizepräsident Guido Heidloff-Herzig mit Hinweis auf das für die Zukunft konzipierte Hochschulgebäude und die notwendige Überarbeitung der Studienstruktur bereits im Grußwort hin – benötigten langfristige Planung. Und als Gedankenexperiment empfahlen Jonas Völker und Silke Schmid am Beispiel des Klimawandels einen Rückblick aus der Zukunft, um das eigene musikpädagogische Handeln zu reflektieren: „Was wird gewesen sein?“
Grenzüberschreitend
In allen Panels wurde deutlich, dass utopisches Denken stets auch grenzüberschreitendes Denken ist. In Kooperationsprojekten werden unveränderlich erscheinende Strukturen von Institutionen durchlässig, Wissenschaftskommunikation, die Liza Psotta für die musikpädagogische Forschung und Praxis untersucht, vermittelt zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit, und auf der Suche nach der musikalischen Identität einer Person greifen Psychologie, Pädagogik, Kulturwissenschaften sowie Soziologie interdisziplinär ineinander (Sabine Schneider-Binkl).
Die besondere Bedeutung von Grenzüberschreitungen zeigte sich anhand vielseitiger inter- beziehungsweise transkultureller Forschungs- und Projektberichte. So wird beispielsweise im Projekt ImproKultur erforscht, ob beziehungsweise inwiefern musikalische Improvisation im schulischen Kontext Kreativität und soziale Interaktion fördert und damit die soziale Utopie von Freiheit und Gleichberechtigung erlebbar macht (Andrea Welte, Felicia Mischke), und im Kompositionsprojekt Klangheimat(en) (Dorothee Barth, Lars Oberhaus, Frauke Heß) entpuppte sich die Heimat letztendlich als „Nichtort“ und damit im wahrsten Sinne des Wortes als Utopie. Dass neben improvisatorischer und kompositorischer Praxis auch kulturübergreifendes Denken die Musikwahrnehmung und -gestaltung beeinflussen kann, zeigte Nicole Besses an die daoistische Philosophie angelehntes Konzept einer „Musikpädagogik der Stille“, an die das „hörfühlende Lernen“ in Anlehnung an John Cages Anarchismus-Begriff (Andreas Höftmann) nahtlos anknüpfen konnte. Als der Wirklichkeit am weitesten entrückter Fluchtpunkt erschien im Panel Utopie in globalen und sozialen Räumen Christiane Gerischers Vorstellung eines „musikalischen Universums“, einer global orientierten Musikpädagogik „frei von regionalen und historischen Verortungen“.
Begrenzung und Freiheit
Das Spannungsfeld zwischen Begrenzung und Freiheit wurde in allen die Tagung gliedernden „utopischen Räumen“ immer wieder ausgelotet. Als Ideal des Frei-Raums (das sich auch bei Cage finden lässt) galt dabei oft der herrschaftsfreie Raum, was sich in verschiedenen methodischen Zugängen der Musikpraxis widerspiegelte. Im bereits genannten Projekt ImproKultur etwa greifen freie Lernräume und musikalische Freiräume ineinander, in denen die „dirigierte Improvisation“ Freiheit und Grenzen konkret erfahrbar machen kann, wie die Tagungsteilnehmer*innen in einer Gruppenimprovisation unter Anleitung von Maria Meures auch praktisch erleben konnten.
Dabei geriet die Interaktion zwischen Individuen verstärkt ins Zentrum der Betrachtung, wie etwa beim Prinzip des „Führens und Folgens“, das eine zugleich aktiv gestaltende wie offen zulassende Rolle, eine „Mediopassivität“, erfordere (Nora Leinen-Peters, Helene Niggemeier). Während sich dieses Prinzip zumindest anfangs weitgehend voraussetzungsfrei anwenden lässt, ist in (sowohl aus musikalischer wie sozialer Perspektive) heterogenen Ensembles wie den Coolen Elbstreichern eine auf das Individuum zugeschnittene Vorbereitung erforderlich, bevor das musikalische Geschehen eigenverantwortlich mitgestaltet werden kann (Gesa Riedel). Verbindende Idee aller Ansätze war dabei immer wieder ein inklusiver Musikunterricht, dessen vollständige Umsetzung selbst eine Utopie sei (Katharina Schilling-Sandvoß) – als Weg hin zum Ideal einer auch weltanschaulich pluralisierten Gesellschaft, in der sich ein diskriminierungsfreier Raum der „Inter-Weltanschaulichkeit“ eröffne (Felix Helpenstein).
Neben ästhetischen Vermittlungsaspekten verstand sich die Musikpädagogik an diesem Tagungswochenende (oft am Beispiel aktueller gesellschaftlicher Krisen) stets auch als „Beitrag zur soziokulturellen und politischen Transformation“ (Linus Eusterbrock) und als „aktive gesellschaftliche Einmischung“ (Jonas Völker). Sie präsentierte sich also zwischen Musik, Utopie und dem per se „utopischen Projekt“ Bildung (Adrian Niegot) ganz im Sinne von Thomas Morus als Disziplin mit hohem gesellschaftlichen Anspruch, der die gesamtgesellschaftliche Freiheit ebenso wichtig ist wie die Glücksvorstellung der Einzelnen.