Der musikpädagogisch verwendete Begriff der „kreativen Rezeption“ verweist auf die Möglichkeit und Aufgabe des Musikhörers, sich der Musik aktiv zuzuwenden. Christine Stöger erläutert ihn in Auseinandersetzung mit verschiedenen Kreativitätskonzepten1:
Hörende bringen ihre Hörweise in den Rezeptionsprozess ein; von der Fähigkeit des Hörenden, Neues zu hören, hängt die Originalität des Werkes ab. Die produktive Leistung des Hörers ist dabei nicht als Rekonstruktion zu verstehen, sondern als „ein Konstruktionsprozess, in dem Bedeutungen kreiert werden, und in welchem die Welt des Imaginären eine große Rolle spielt.“2 In der Welt des Imaginären ist Sprache nicht wirksam, vielmehr ist sie ein Ort „an dem sich verschiedenste Reaktions- und Aktionsebenen noch vermischen, nämlich Emotionen, Erinnerungen, Bildhaftes, Versatzstücke der Symbolwelt, Bewusstes und Unbewusstes, an dem der kanalisierende Zugriff der Symbolwelt noch keine Macht hat“3.
Diese Beschreibung der „Welt des Imaginären“ lässt sich mit Ernst Blochs Deutung des Wachtraums in Verbindung bringen, als Ort, an dem die Zukunft und das Kunstwerk der Zukunft entworfen wird. „So ist überall Wachtraum mit Welterweiterung, als tunlichst exaktes Phantasieexperiment der Vollkommenheit dem ausgeführten Kunstwerk vorausgesetzt.“4 Die Richtung auf das Neue, „das Noch-Nicht-Bewußte“5 unterscheidet dabei den Wachtraum wesentlich vom Nachttraum. Dieser ist auf Verarbeitung von Erlebnissen et cetera gerichtet, er wendet sich der Vergangenheit zu, während der Wachtraum Wunscherfüllungen vorwegnimmt. Damit wendet sich der Wachtraum an die Zukunft und schöpft eben nicht aus der Erinnerung. Maßgebliche Triebkräfte des Wachtraums sind die „Erfüllungsaffekte“ Furcht, Verzweiflung und Hoffnung. Blochs Konzept der Erfüllungsaffekte impliziert, dass diese auf das Eintreten von Neuem zielen, darin liegt die Kreativität des Wachtraums. Ob das Erwartete positiv oder negativ für den Aspekt der Selbsterhaltung ist, bleibt im Hinblick auf die utopische Kraft des Tagtraums sekundär. Der Lustgewinn liegt in dem kreativen Tätigsein, in der imaginierten Erfüllung imaginierter Erwartungen.
In besonders ausgeprägter Weise zeigt sich Musik als Trägerin utopischer Energie, weil sie noch nicht verstanden werden kann, sondern – als Pendant zum Hellsehen früherer Zeiten – auf einen noch im Entstehen begriffenen Sinn deutet; sie ist Vor-Schein „eines quellenden Existenzkerns (Augenblick) des Seienden“, ihr „Ausdruck ist noch gärend, noch nicht fertig-definierbar herausgekommen“6. Die Zuhörer sind daher auf ihre imaginative Fähigkeit in besonderer Weise angewiesen, sie sind aufgefordert, die Musik „schöpferisch“ und nicht nur kommentierend zu deuten7; nur einem solchen Hören „enthüllt sich das erträumte, das utopisch weiterwachsende Schloß der Musik“.8
Kann diese Form des Hörens mit ihrer Anforderung an die subjektive Empfindungsfähigkeit und ihrer Nähe zur psychischen Region des Tagtraums zum Gegenstand musikpädagogischer Vermittlung werden? Ein in der Musikpädagogik hinlänglich bekanntes Verfahren zur Einbeziehung von unbestimmten Vorstellungen, Eindrücken, die sich sprachlicher Verbalisierung entziehen, bildet die Übertragung musikalischer Eindrücke in ein anderes Medium: Die Aufgabe, zur Musik zu malen, sich zu bewegen, Gedichte zu schreiben oder Geschichten zu erzählen, gibt Gelegenheit dazu, dem musikalischen Eindruck kreative Antworten, die sich in einem begrifflich unbestimmten Bereich von Symbolisierungen bewegen, gegenüber zu stellen. Wie das folgende Beispiel zeigt, ermöglichen die hierbei entstehenden Artefakte einen Einblick in die Prozessualität des Deutungsprozesses. Im Rahmen eines Projekts „Kreatives Schreiben zu Musik“, das SchulmusikstudentInnen mit der 7. Klasse eines Leipziger Gymnasiums durchführten, setzten sich die SuS mit „Arcana“ von Edgar Varèse auseinander. „Arcana“ ist mit seinen aggressiven, die Grenzen zum Geräuschhaften überschreitenden Klängen und seinem hörend kaum nachvollziehbaren Aufbau kein leichtes Stück, das insbesondere im Hinblick auf einen möglichen Lustgewinn beim Hören geradezu sperrig genannt werden kann. Einige Schüler lehnen es auch rundweg ab. So schreibt ein Schüler: „Ich kann nicht verstehen, wer sich solche Musik freiwillig anhört. Ich finde, es hört sich bloß nach Krach an. Das, was diese Musik aussagt, ist einzig und allein Mord, Totschlag, Blut, Krach. Lasst mich bloß in Ruhe damit! Bei dieser Musik kommen mir schreckliche Gedanken.“
Bemerkenswert sind vor diesem Hintergrund zwei Texte einer Schülerin, in denen es dieser gelingt, die von der Musik hervorgerufenen negativen Bilder als bereichernd zu erfahren und sie im Sinne eines positiven Vor-Scheins zu modifizieren. In ihrem ersten Text, der einen sachlich-beschreibenden Charakter hat, geht sie auf den semantischen Gehalt des Stückes (Dunkelheit, Furcht, Rache, Flucht) sowie auf seine Form ein. Obwohl sie sich durch den Stimmungsgehalt in bedrohliche Situationen versetzt fühlt, vermerkt sie eine interessante Wirkung und spricht am Schluss des Textes eine Empfehlung aus: „Doch bekommt man stets den Eindruck, der auch bleibt, dass es sich bei dem Stück um Verzweiflung, Angst, Flucht, Krieg, die schlechten Seiten des Menschen handelt, man selber fühlt sich in eine Flucht oder bedrohliche Situation versetzt. Auch wenn die Melodie traurig, bedrohlich oder depressiv ist, wirkt gerade auch das interessant, mal ein anderes Stück mit anderen Hintergründen, Melodien und Facetten zu hören. Arcana ist zu empfehlen.“
Während der beschreibende Text zwar einerseits zu einem differenzierten Werturteil gelangt, andererseits aber die inhaltlich-semantische Negativität des Stückes in den Vordergrund stellt, modifiziert der zweite, narrativ angelegte Text diese Deutung und lässt buchstäblich einen Lichtstrahl in die düstere Szenerie fallen:
„Flucht der Verzweiflung (kleiner Roman zu Arcana)
Ein Mann schweißgebadet vor Furcht auf der Flucht vor sich selbst und seinen Feinden. Eingehüllt in die Nacht, verschlungen von seiner Verzweiflung und Furcht. Die Feinde, die voller Hass sind, jagen, wollen ihre Rache ausführen. Vom Bösen eingenommen, die Dunkelheit im Herzen, geben sie nicht auf, bevor sie ihren Rachedurst gelöscht haben, ihre Aggressivität und Boshaftigkeit ausgekostet haben. Doch das Gute ist nah, man kann es nicht aufhalten. Von der Nacht umhüllt rennt der Mann um sein Leben im dunklen Wald. Hinter sich jene, die ihn töten wollen. Doch es kommt ein Lichtstrahl, die Dunkelheit wird gebrochen. Die Feinde, die Jäger werden zu Gejagten ihrer eigenen Verzweiflung – nun, da sie ihn nicht mehr rächen (sic!) können.“
Die Autorin greift hier auf die Begriffe zurück, mit denen sie im ersten Text den semantischen Gehalt der Musik benannt hat. Dabei liegt eine entscheidende Neuerung darin, dass sie diese Begriffe zwischen Protagonisten und Gegenspieler aufteilt. Dem männlichen Protagonisten, der Identifikationsfigur des Textes, werden „Flucht“, „Furcht“, „Verzweiflung“ zugeordnet. Seine Gegenspieler, die „Feinde“, sind auf „Rache“ aus und tragen „Dunkelheit“ im Herzen. Mit dieser Verteilung bekommt die Geschichte eine Dynamik, die in dem ersten Text nicht entfaltet worden war und die es ermöglicht der weiterhin düsteren Szenerie eine neue Ausrichtung zu geben.
Es zeigt sich im Vergleich der beiden Texte, dass die Erzählung dort ansetzt, wo der beschreibende Text nur Stichworte liefert. Die in der sachlichen Beschreibung lediglich angedeuteten Vorstellungsinhalte werden durch die Erzählung präsent gemacht, aber auch weiter getrieben. Ausgehend von Blochs Diktum von Musik als utopische Kunst lässt sich diese Ausgestaltung des rezeptiven Eindrucks in einer fiktiven Geschichte als Beispiel eines spekulativen Hörens deuten, das (vermutlich) der Rezipientin Gelegenheit bietet, die durch die Musik angeregte Stimmungs- und Gefühlslage im Sinne einer wachträumenden Affekterfüllung „auszukosten“.
Die nächste Jahrestagung der GMP findet vom 11. bis 13. März 2022 zum Thema „Musik – Utopie – Bildung“ statt.
1 Vgl. Stöger, Christine: Wie kreativ ist Musikhören? Eine Spurensuche aus musikpädagogischer Perspektive. In: Diskussion Musikpädagogik 39/2008
2 Stöger S. 13
3 Stöger S. 12
4 Bloch, Ernst: Ästhetik des Vorscheins. Bd. 2, hrsg. von Gerd Ueding. Frankfurt a. M. 1974, S. 43
5 Bloch S. 64
6 Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. Dritter Band. Frankfurt a. M. 1959, S. 1258
7 Ernst Bloch: Zur Philosophie der Musik, ausgewählt und herausgegeben von Karola Bloch. Frankfurt a. Main 1974, S. 111
8 Ebd.