„In Schule und Leben bietet sich ein Bild der Zerklüftung, des Eigennutzes, der inneren und äußeren Desorganisation, ein unbeherrschtes Treiben und Sich-Treiben-Lassen, das einer planvollen Zusammenfassung der Kräfte bedarf.“ Mit diesen Worten forderte Leo Kestenberg bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein musikpädagogisches Gesamtkonzept, das alle Institutionen von der Elementar- bis zur Hochschulbildung zusammenführt. In seiner Schrift „Musikerziehung und Musikpflege“ setzte sich der Begründer des Schulfachs Musik und Schöpfer des Musikstudienrats dabei gleichsam für öffentlich-kommunale Musikschulen ein, um jenseits allen musikpädagogischen Ressortdenkens die unterschiedlichen Einrichtungen in einem Haus der Musik zusammenzuführen. Bis heute werden diese idealistisch und utopisch anmutenden Visionen beständig reformuliert, immer noch gilt es, sich an deren Umsetzung abzuarbeiten.
Kunst & Schule – gefangen in selbstbezüglichen Systemen?
Peter Sloterdijk beschreibt in seinen Anweisungen „Du musst dein Leben ändern“ Kunst und Schule als egoistische „selfish systems“, als selbstreferenzielle Systeme, die nur scheinbar eine Symbiose mit der Außenwelt eingehen: Schule „verwandelte sich in ein ‚selfish system‘, das sich ausschließlich an den Normen des eigenen Betriebs orientiert. Mit der Ausdifferenzierung des Schulsystems ist ein Zustand eingetreten, in dem die Schule ein einziges Hauptfach kennt, das Schule heißt.“ Die Schule bildet also einen sakralen Bezirk, in dem Schüler zwar für das Leben danach lernen sollen, ihre Lehrerinnen und Lehrer aber oft nur auf den ihnen anvertrauten Lebensabschnitt der Lernenden blicken. Doch auch vom hehren Autonomiedenken beseelte Künstler müssen sich fragen lassen, ob sie in angemessener Weise wahrnehmen, was außerhalb ihres eigenen Systems liegt: „In Wahrheit denkt das Kunstwerk im ‚selfish system‘ der Kunst nicht daran, eine Welt aufzustellen. Was es aufstellt, ist seine manifeste Abgeschnittenheit von allem, was außerhalb seiner eigenen Sphäre liegt.“ Es sind gerade jene von Sloterdijk beschworenen „selfish systems“, die Reform- und Innovationsbestrebungen ins Leere laufen lassen, weil sie – wie Münchhausen, der sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen möchte – einzig den eigenen Kräften vertrauen.
Gemeinsames Handeln
Ein Blick auf die bestehenden Kooperationskulturen bestätigt, dass diese im Alltag von Schulen seit vielen Jahren in unterschiedlichsten Schattierungen fest etabliert sind. In Anbetracht dieser festen Strukturen mit individuell abgestimmten Organisationsformen scheint das Feld bestellt, und doch tauchen immer wieder Fragen nach inhaltlich-organisatorischen und rechtlichen Rahmungen auf. Es sind gerade diese Feinjustierungen im Alltag, die es geboten erscheinen lassen, sich dem Problem immer wieder aufs Neue anzunähern, ist doch der Sprung vom eigenen Selfishsystem ins andere für manchen mit Ernüchterung und Bedrohung, bis hin zur empfundenen Selbstaufgabe der hehren künstlerischen bzw. pädagogischen Ideale verbunden. Die Notwendigkeit der Kooperation ergibt sich dabei nicht nur aus Verteidigungsstrategien gegen klamme öffentliche Kassen und schulische Ganztagskulturen, sondern auch aus inhaltlich begründeten Paradigmenwechseln, die sich innerhalb der bestehenden Systeme gebildet haben und die zu grundsätzlichen Neuorientierungen herausfordern: Im schulischen Musikunterricht wird dem Musizieren ein breiterer Raum eingeräumt, das Gefälle zum traditionellen Kreideunterricht scheint aufgehoben. Eine verstärkte Schulautonomie im Sinne einer dezentralen Gestaltung unseres Bildungswesens lässt neue Wege zu, um die erweiterten Handlungsspielräume für ein Öffnen nach außen zu nutzen. Auch innerhalb des Systems lösen sich starre Strukturen des reinen Klassenunterrichts mehr und mehr auf, durchlässigere Modelle mit flexibleren Stundentafeln und Raum für individualisiertes Lernen eröffnen gerade auch den musischen Fächern neue Gestaltungsmöglichkeiten. Auf der anderen Seite fühlen sich Musikschulen längst nicht mehr ausschließlich einer bildungsbürgerlichen Mittelschicht verpflichtet, sondern übernehmen durch ihre musikalische Breitenarbeit verstärkt eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung.
Additive Kooperationen
Insgesamt fehlt es jedoch noch an einer theoretischen Fundierung und begrifflichen Bestimmung, was unter Kooperation genau verstanden werden soll. Im weitesten Sinne wird der Begriff Kooperation zur Zeichnung gemeinsamer Normen, Einstellungs- und Erwartungshaltungen benutzt. Verfolgt wird demnach ein gemeinsames Ziel, ohne dass man zunächst in Interaktion treten muss. Für diese additiven Kooperationen greifen spieltheoretische Konzepte, die beschreiben, wie der Erfolg des Einzelnen nicht nur von eigenem Handeln, sondern auch von Aktionen anderer abhängt und sich das Entscheidungsverhalten in sozialen Konfliktsituationen gestaltet. Was auch als „Gefangenen-Paradigma“ bezeichnet wird, funktioniert so lange, wie wohlwollendes Verhalten mit einem ebensolchen beantwortet wird. Wird dieses Zutrauen durch opportunistisches Verhalten allzu strapaziert, führt dies zu Handlungen, die letztlich zu gegenseitigen Beeinträchtigungen führen. Die Rede ist hier von unterschiedlichen Aufgaben mit einer gemeinsamen Zielgruppe, die durch ergänzende Angebote mit selbstständigen, unterschiedlichen Handlungsfeldern wahrgenommen werden. Auch ein zuarbeitender Instrumentalunterricht, der eine Orchesterklasse flankiert, kann in diesem Sinne als additive Kooperation verstanden werden.
Diese additiven Prozesse können in einem freundlich gestimmten Nebeneinander oder auch in konkurrierend ablehnender Distanz passieren. Konfliktpotentiale ergeben sich, wenn auf beiden Seiten standardisierte Handlungsabläufe in starren und festgefahrenen Routinen aufeinander treffen und die Wirksamkeit des eigenen Handelns für das fremde System nicht unmittelbar spürbar ist. Wechselseitig verzerrende Wahrnehmungen und gegenseitige Inkompetenzunterstellungen erleichtern es, die Gründe für ein Misslingen in den Schwächen des anderen zu suchen. Beide musikpädagogischen Professionen sind zudem von einem hohen Individualismus geprägt: Zur Berufskultur des Lehrers gehört geradezu die gezielte Nichteinmischung in die Arbeit der anderen, für Instrumentalpädagogen eine besondere Kultur der Nähe in individuellen Lernprozessen zum ausgemachten Berufsethos. Aufgrund einer hohen persönlichen Eingebundenheit in die Sache und vor dem Hintergrund der Unwägbarkeit von Unterrichtsprozessen ist jede Kooperation riskant, und das Risiko des Scheiterns stellt, gerade wenn sich hier Personen aus dem gleichen fachlichen Feld begegnen, ein zusätzliches Konfliktpotential dar.
Synergetische Kooperationen
Synergetische Kooperationen führen im Gegensatz zu einem sich additiv ergänzenden Zusammenwirken der einzelnen Protagonisten zu einer gänzlich anderen Systembildung, die Neues schafft, welches durch die einzelnen Partner nicht möglich wäre. Hierzu gehört etwa ein gleichberechtigt und gemeinsam geführter Tandemunterricht in einer Orchesterklasse. Spätestens diese gemeinsame Systembildung fordert gemeinsame Aus- und Fortbildungsstrukturen. Doch wie kann hier an tragfähigen Konzepten gearbeitet werden, wenn bereits die Ausbildung in separierten Systemen mit unterschiedlichen Zuständigkeiten und Zielvorgaben verläuft? Bedarf es hier, um Kestenbergs Visionen weiter zu verfolgen, einer gemeinsamen Ausbildung, um die institutionellen Eigenlogiken und Handlungsrealitäten zu durchdringen und verstehen zu lernen? Letztlich bedarf es mehr als ein Zusammenwirken der Musikpädagogen verschiedener Professionen. Nötig scheint eine Kooperationskultur, die das ganze System von Schule und Ausbildung einbezieht und nicht als unveränderbaren eisernen Käfig, sondern als eine gestaltungsbedürftige und lernende Masse betrachtet.
Der Artikel basiert auf einem Vortrag im Rahmen der GMP-Tagung „Aktuelle musikpädagogische Herausforderungen und Perspektiven“ am 1. März 2013 an der Universität Siegen.