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Unterricht als ergebnisoffene Zusammenarbeit

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Die Tagung der GMP eröffnet einen Blick auf musikpädagogische Situationen als Interaktion
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Thematische Schwerpunktsetzungen von Fachtagungen sind ein guter Indikator dafür, welche Begriffe und theo­retischen Strömungen innerhalb einer Disziplin aktuell als wichtig gelten oder in nächster Zeit wichtig werden könnten. Dies gilt auch für die diesjährige Tagung der Gesellschaft für Musikpädagogik, die vom 18. bis zum 20. September zum Thema „Interaktion“ stattfand. Auf den ersten Blick könnte die Themensetzung wenig innovativ wirken. Schließlich ist es keine große Neuigkeit, dass musikpädagogische Unterrichtssituationen in der Schule oder im Instrumental- und Gesangsunterricht Formen sozialer Interaktion darstellen. Auf den zweiten Blick zeigt sich hinter der Begriffswahl allerdings eine spannende Verschiebung im theoretischen Verständnis davon, wie sich musikpädagogische Prozesse grundlegend denken lassen: Weg von Perspektiven, die entweder die didaktischen Maßnahmen der Lehrpersonen oder die individuellen Lernprozesse der Schülerinnen und Schüler fokussieren, und hin zu einer Sichtweise, die das Zusammenwirken aller Beteiligten in den Blick nimmt.

Auch wenn sich Musikpädagoginnen und -pädagogen einig darin sein dürften, dass alle Personen im Unterricht gemeinsam zu dessen Ergebnis beitragen, haben sich theoretische Unterrichtskonzepte bisher eher auf die einzelnen Personen in diesem Geschehen konzentriert. Didaktische Theorien haben vor allem das Handeln der Lehrpersonen in den Blick genommen: Welche Ziele setzen sich Lehrerinnen und Lehrer? Anhand welcher Inhalte verfolgen sie ihre Ziele? Welche Herangehensweisen wählen sie hierzu? Lernorientierte Konzepte haben dagegen die Schülerinnen und Schüler in den Fokus gerückt und betrachtet, wie diese ihr musikalisches Wissen und Können ausbilden: Welche persönlichen Herangehensweisen an Musik bringt eine Schülerin in den Unterricht mit? Wie beeinflussen diese ihr Musizieren und ihren Umgang mit Musik? Auf welchen Wegen eignet sich ein Schüler neue Fähigkeiten und Kenntnisse an? Was macht er aus den Anregungen und Vorgaben, die er von seiner Lehrerin oder seinem Lehrer erhält?

Zusammenarbeit stärker im Blick

Die Tagung zum Begriff „Interaktion“ zeigt, dass sich musikpädagogische Überlegungen aktuell von ihrem Fokus auf die Lehrerinnen und Lehrer beziehungsweise die Schülerinnen und Schüler lösen und dafür stärker deren Zusammenarbeit in den Blick nehmen. Der soziologische Interaktionsbegriff ist mit der Grundidee verbunden, dass sich Ergebnisse zwischenmenschlichen Umgangs nicht allein aus den individuellen Eigenschaften, Zielen oder Wünschen der einzelnen Akteure heraus entwickeln.

Interaktionstheorien nehmen stattdessen an, dass sich das Resultat einer Interaktion erst aus dem Hin und Her gegenseitiger Bezugnahmen aller Akteure aufeinander erklärt. Auch die Persönlichkeit eines Menschen ist aus Sicht dieser Theorien nicht von vornherein im Individuum angelegt. Ein Mensch bildet erst im Umgang mit anderen Personen sukzessive eine ihm eigene Persönlichkeit aus und wird durch seine Mitmenschen geprägt. Für den Blick auf musikpädagogische Situationen ergeben sich aus diesem Ansatz neue Sichtweisen: Unterricht erscheint weder als eine ausschließlich durch didaktische Maßnahmen gesteuerte Lehrveranstaltung noch als ein durch individuelle Dispositionen bedingter Lernprozess der Schülerinnen und Schüler. Stattdessen gerät die ergebnisoffene Zusammenarbeit aller Akteure in den Blick: Was die einzelnen Beteiligten aus dem Unterricht mitnehmen, erklärt sich erst daraus, wie sie dort interagieren – wie sie also miteinander um- und aufeinander eingehen.

Die Vorträge der Tagung machten deutlich, dass die Interaktionsperspektive ein großes Erkenntnispotenzial für die Beschreibung und Erklärung musikpädagogischer Situationen hat. Der Rückgriff auf Interaktionstheorien eröffnet den Zugang zu bisher ungenutzten Begriffen und Konzepten, die ein grundlegend neues Verständnis altbekannter Phänomene ermöglichen. So verdeutlichten Nicole Besse, Nora Peters und Constanze Rora, dass vermeintlich simple Kommunikationshandlungen, in denen Lehrpersonen ihren Schülerinnen und Schülern Musik „zeigen“, komplexe Interaktionsprozesse darstellen: Der Gegenstand Musik existiere nicht unabhängig von den Unterrichtsteilnehmern. Er werde erst im Zeigen und in der Interpretation des Zeigens gemeinsam durch alle Beteiligten praktisch konstituiert. Peter Mall zog den Begriff der „Lernökologie“ heran, um eine Vorstellung davon zu erlangen, wie verschiedene soziale Felder, in denen sich Schülerinnen und Schüler bewegen, im Unterricht gemeinsam bedacht und adressiert werden können. Andrea Welte und Jan Jachmann entwickelten in Rückgriff auf Michael Tomasellos Konzept der Shared Intentionality eine neue Perspektive auf Assoziationsprozesse im musikalischen Improvisationsunterricht.

Sie argumentierten, dass die Bilder, Vorstellungen und Geschichten, die Lehrpersonen ihren Schülerinnen und Schülern als Grundlage zum musikalischen Improvisieren vorschlagen, mehr darstellen als Assoziationsangebote. Solche Vorschläge bildeten vielmehr eine gemeinsame gedankliche Grundlage, auf Basis derer alle Unterrichtsteilnehmer ihre Interaktion strukturieren und ihr Musizieren mit Sinn versehen könnten.

Aus interaktionsorientiertem Blickwinkel können sich auch bisher nicht näher betrachtete Aspekte des Unterrichts als zentral für das Unterrichtsergebnis herausstellen. So rekonstruierte Bianca Hellberg, dass Schülerinnen und Schüler gemeinsam mit den Lehrpersonen die Unterrichtsinteraktion strukturieren, indem sie ihre räumlichen Positionen zueinander koordinieren. Wie genau die relative Positionierung erfolge, bedinge, welche Möglichkeiten des gemeinsamen Interagierens und Musizierens sich eröffneten.

Was ist gute Musik?

Auch für die Betrachtung der Ausbildung von Musikpädagoginnen und -pädagogen erwies sich die Interaktionsperspektive als ergiebig. Ulrike Kranefeld und Katharina Höller stellten dar, wie sich die Vorstellungen von Studierenden, was gute Musik sei, in der Interaktion miteinander hinterfragen und verändern ließen. Lukas Bugiel und Anne Günster rekonstruierten, wie die Auffassungen von Hochschuldozenten, wie Musiklehrerinnen und -lehrer zu sein hätten, sukzessive auch ihre Studierenden in ihrem Handeln und Denken prägen.

Dass der große Einfluss digitaler Medien auf zwischenmenschliche Interaktion weiter untersucht werden sollte, wurde auch an der Tagung selbst deutlich, die als digitale Konferenz stattfand. Auch in den Vorträgen war das ambivalente Potenzial digitaler Angebote ein wichtiges Thema. So rekonstruierte Jan-Peter Koch, dass Schülerinnen und Schüler im Umgang mit digitalen Medien einerseits neue Möglichkeiten darin erhielten, Musik gemeinsam zu erfinden und in ihren Kompositionen unterschiedliche Genres miteinander in Bezug zu setzen. Zugleich argumentierte er, das digitale Kommunikation eine sinnvolle Feedbackkultur erschwere. Dies müsse didaktisch bedacht werden. Nicht zuletzt wurde deutlich, dass Aspekte musikpädagogischer Situationen, die als wichtig gelten, aber noch nicht tiefgreifend untersucht wurden, mit Hilfe von Interaktionstheorien besser in den Blick genommen werden können. Dies zeigten die Vorträge von Peter W. Schatt und Stefan Orgass zum Begriff der Emergenz: Beide Vortragenden machten deutlich, dass es für zukünftige Forschung sinnvoll sein könnte, genauer zu untersuchen, wie Unvorhergesehenes im Musikunterricht aus der Interaktion aller daran Beteiligten entsteht.

Für den Konferenzbeobachter, der selbst als Vortragender beteiligt war, verblieb ein Eindruck, der sich vemutlich immer dann einstellt, wenn sich grundlegende Denkweisen und Forschungsansätze einer Disziplin verschieben: Es ergaben sich viele erhellende Erkenntnisse, die aber nicht zu abschließenden Antworten, sondern zu weiterführenden Fragen führten. Die Erforschung musikpädagogischer Situationen als ergebnisoffene Zusammenarbeit bleibt spannend.
 

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