Die Jeunesses Musicales Deutschland führte 2005/06 mit einer Förderung des Ministeriums für den ländlichen Raum Baden-Württemberg ein umfängliches Pilotprojekt zur Nutzung moderner Medientechnologie für die Musikakademie Schloss Weikersheim durch. Ein Bestandteil davon bezog sich auf die Nutzungs- und Anwendungsmöglichkeiten multimedialer Komponenten. Neben einer Konzeption für ein Kreativlabor in einem noch zu sanierenden Gebäudeteil des Schlosses lieferte vor allem ein konkretes künstlerisches Projekt das erhoffte Erfahrungswissen. Die JMD arbeitete hierbei mit dem Zentrum für Kunst und Medientechnologie ZKM Karlsruhe zusammen. Sechs Stipendien wurden an experimentierfreudige vorprofessionelle Nachwuchskünstler vergeben. Das Bachfest Aschaffenburg kaufte die Uraufführung ein.
Da steht eine Sängerin vor einer Treppe – nein: Sie steht vor einem Bild von einer Treppe, die sich auflöst, neu formiert, mal mit Geländer, mal ohne. Das Changieren zwischen Realität und Traumsequenzen, zwischen Gefühlen und deren physischer Darstellung, zwischen wirklichen Personen und ihrer virtuellen Dekonstruktion ist eine Konstante der vom amerikanischen Video-Künstler Gabriel Shalom konzipierten und gefilmten Musiktheater-Produktion „Donny G.“ (uraufgeführt am 1. August im Rahmen des Bachfestes Aschaffenburg mit Folgeaufführungen an der Musik-akademie Schloss Weikersheim und im ZKM in Karlsruhe).
Die tückischen Treppen stehen im Mittelpunkt des dritten Aktes von „Donny G.“: Der Aufzug in den Himmel und in die Hölle ist nämlich kaputt. Und Donny G., der Liftboy, der die Macht hat, die Frauen in die höchste Seligkeit und in die große Depression zu befördern, ist folglich arbeitslos. Es bleiben drei Frauen, wie in Mozarts und Da Pontes Dramma giocoso, die ihre Erinnerungen an Lust und Leid beschwören – dieses allerdings in höchst komprimierter Form: Eine Geste, ein Blick – eingerastet und eingefroren – oder eine Silbe genügen, um dem Publikum von ihrem Zorn und ihren Liebesversprechen zu erzählen. Die Sängerin Raphaela Stürmer droht, lockt, seufzt, bellt und zischt hier live und über Lautsprecher, dass es nur so eine Lust ist. Wie Shalom auf der visuellen Ebene gehen auch die Komponisten Matthias Ockert, Luis Antunes Pena und Ali Gorji in ihren Partituren mit der klassischen Vorlage um: Mozarts Musik wird zunächst analysiert und fragmentiert, dann werden einzelne ihrer Elemente erneut zusammengefügt. Das Ergebnis scheint zunächst nicht viel mit Mozart zu tun zu haben. Je stärker man sich aber dem hintergründigen Spiel von Humor und Schrecken, von Erstarrung und Fluss, von Ironie und tiefem Gefühl hingibt, desto mehr glaubt man zu erkennen: Die Skalen der Don Giovanni-Ouvertüre, die verminderten Akkorde des unheimlichen Gastmahls, Gedankenfetzen von Don Ottavio und Leporellos Verzweiflungsschreie in der Komtur-Szene. Egal, ob das Wiedererkennen seine Richtigkeit hat oder nicht: Gefühle entstehen, eine Ahnung von tieferen Bedeutungsschichten stellt sich ein und die Phantasie bekommt Flügel. Dass der Flügelschlag innerhalb der insgesamt sehr spannenden 75 Minuten manchmal leicht ermattete, mag an leichten Längen im Stück, vielleicht aber auch an den tropischen Temperaturen im Gewehrhaus gelegen haben ...
„Donny G.“ besteht insgesamt aus einer Ouvertüre und drei Akten samt Zwischen-Akten und Epilog. Als Vorspiel und Scharnier in Bilderreigen und Klangfluten dient die große Komtur-Szene aus Mozarts Vorlage: Sie wird von Ali Gorji zu Fahrstuhlmusik umfunktioniert, die sich aus plärrenden Lautsprechern über uns ergießt – hier ist das Originalwerk weitgehend erkennbar, wenn auch die drei Herren Leporello, der Komtur und Don Giovanni Sopran singen müssen (die vorproduzierten Tonbänder ebenfalls mit der fabelhaften Raphaela Stürmer) und das Orchester durch das einsame Akkordeon Jan Jachmanns ersetzt wird: großartig-grotesk.
Im ersten Akt des Abends, zu Ali Go-rjis Musik „Ich, Dein Schatten“, führt uns Shalom in abstrakte Bilderwelten, die den virtuos und beseelt spielenden Akkordeonisten doppeln, spiegeln, und bis in einzelne Knöpfe zum Kunstwerk werden lassen. Die Musik schwankt ebenfalls zwischen mächtigen Clustern oder Akkordkaskaden und fast völliger Stille, einzelnen Klängen, die aus dem Nichts auftauchen und dort auch wieder verschwinden.
Das Publikum ist nun schon auf die Gegenwart, den Augenblick, das Kleinst-Ereignis fixiert und wird in der Folge von Luis Antunes Pena und Shalom auf einen wahren Höllen-Trip geschickt: Verführung (wobei nicht klar ist: Wer verführt hier eigentlich wen?) wird zur zwanghaften Geste, Erotik schlägt um in nervöse Ticks und sogar der Champagner gerinnt im Glas: aus der Zeit hinaus, verhext, gebannt.
Von Matthias Ockerts gespenstischem Silbenreigen, gesungen von dreimal Raphaela Stürmer, war oben schon die Rede. In einer gewaltigen Steigerung erscheinen kleine Terzen, die vielleicht einmal zum echten Don G. gehört haben, es formen sich Silben aus Arien von Zerlina, von Don Ottavio, von Donna Elvira, alles mündet in einen dreifachen, eingefrorenen Schrei. Übernimmt Raphaela Stürmer nun den Part von Donny G., den die Damen in die Hölle geschickt haben (weshalb nun der Fahrstuhl nicht funktioniert) – oder fahren die Damen in die Unterwelt? Lakonischer Abgang: Wir befinden uns wieder in der Szenerie des Anfangs, die Fahrstuhltüren öffnen und schließen sich wieder und aus den Lautsprechern tönt Mozart. Ob jetzt wohl alles noch einmal von vorne beginnt?
Einiges, was man nicht weiß, vieles, was man erlebt hat – und das ist gut so. Denn die vier Autoren und ihre beiden Interpreten erklären und philosophieren nicht herum. Sie machen einfach spannendes, erfrischendes und bewegendes Neues Musiktheater.