Wolfenbüttel am Nordrand des Harzes. Vom 7. bis 11. 9. 2005 wird diese alte barocke Fürstenstadt wie alle zwei Jahre im September quicklebendig. Für fünf Tage kommen 750 Kinder und Jugendliche zu Besuch.
Sie gehören zu 19 Ensembles aus Deutschland sowie elf anderen Ländern Europas von Portugal bis Weißrussland, von Israel bis zum Baltikum. Sie alle feiern den EUROTREFF 2005, ein Jugendfestival für Chöre, Instrumentalisten und Tanzgruppen. Im Festivalbüro im altehrwürdigen Schloss wirbelt ein perfektes ganz junges Organisationsteam. Alles ist durchdacht, jede einzelne Gastgruppe wird von ein oder zwei Betreuern umsorgt. Offizielle Stellen haben dafür ein bedeutendes Wort: „Partizipation der Jugendlichen”. Dieser jungen Truppe macht die Arbeit offensichtlich einfach Spaß.
Viele der angereisten jungen Leute schlafen bei Wolfenbütteler Familien. Besser und direkter kann man das Gastland nicht kennen lernen. Der Treff für alle: das zentrale Essenszelt mitten in der Stadt. Hier sorgt eine große Zahl freiwilliger Helfer vom DRK für das leibliche Wohl. Beim Warten auf die Essensausgabe, beim Sonnenbad zum Nachtisch, als Dankeschön für die DRK-Leute - immer wieder erklingt Gesang. Alle möglichen Sprachen mischen sich. Und in kleinen und großen Trupps sitzen sie zusammen: Ungarn, Berliner, Weißrussen, Uelzener, Polen und Leipziger. Man erlebt auf Schritt und Tritt, dass das nicht nur ein angeklebtes Etikett ist, wenn der Eurotreff Teil der Kampagne „Open the world!“ ist. Und wenn der Veranstalter Arbeitskreis Musik in der Jugend (AMJ) darauf hinweist, dass hier ganz intensives interkulturelles Lernen geschieht, tut er das mit Recht.
Donnerstag, morgens von 9.00 bis 13.00 Uhr: die ausländischen Chöre treten in Wolfenbütteler Schulen auf. Besser gesagt, sie stellen sich vor. Natürlich mit Gesang. Aber eben auch mit Erzählungen davon, wie es bei ihnen zuhause ist. Sonntags: jetzt erklingt die Musik aus aller Herren Länder in den Gottesdiensten der Stadt, in Seniorenheimen und Krankenhäusern. Nein, hier ist kein Wettbewerb im Gange. Hier geht es keinem Chor um Ehrenurkunden oder Siegermedaillen. Die Freude, die alle selbst an der Musik haben, lassen sie ausstrahlen auf andere: auf die Wolfenbütteler Bürger und auf die anderen Festivalteilnehmer. Das geschieht natürlich auch in hochkarätigen Konzerten. Davon gab es in diesen fünf Tagen neun als Begegnungskonzerte mit jeweils drei bis vier Chören; dazu die großen Konzerte zur Eröffnung und zum Abschluss. Die Chöre sangen zunächst das mitgebrachte Repertoire aus ihrer Heimat. Besonders auffällig für viele waren dabei sicher immer noch die israelischen Stücke und ihre oriental gefärbten Elemente. Für manche ausgesprochen gewöhnungsbedürftig klangen die sehr laut gesungenen, fast „gebrüllten“ Stücke eines georgischen Knabenchores. Aber man erfuhr auch den Grund dafür: viele der Lieder sind in den Bergen Georgiens entstanden und werden von Berg zu Berg übers Tal hinweg einander zugesungen. Und die georgischen Jungs konnten auch anders. Das zeigte sich in ihrem Workshop, wo sie immerhin bei einem Stück mitsangen – obwohl die meisten von ihnen keine Noten lesen können. Eine Meisterleistung von Andreas Cessak, der die Georgier als Workshopleiter letztlich doch zum Mittun überredet und deutlich sicht- und hörbar motiviert hat, sich einmal auf die mitteleuropäische Chor-Polyphonie einzulassen.
Überhaupt die Workshops! Es ist großartig, wie die Kinder und Jugendlichen in sieben Workshops zu je zwei bis vier Chören in vier Proben gearbeitet haben. Im knapp dreistündigen Abschlusskonzert wurden die Ergebnisse vorgetragen. Da hatten sich in der Arbeit mit der Französin Catherine Fender die eher slavisch-kehligen Stimmen zweier Kinderchöre aus Rumänien und der Slowakei so verändert, dass sie drei Lieder von Francis Poulenc französisch leicht vortragen konnten. Berliner, Portugiesen und Esten vereinten sich zu einem schwungvollen Jazz-Chor-Ensemble. Linus Kasten aus Bremen hatte sie perfekt auf „groove and move“ eingestellt. Bewegung auch in einem anderen Kinderchor-Workshop: Jacques Iberts Geschichte eines kleinen munteren, dann aber müde werdenden Zebus wurde nicht nur perfekt gesungen, sondern auch noch mit einer kleinen aber feinen ganz stimmigen Choreographie in Bewegung umgesetzt. Ein besonderes Bonbon: Wolfenbüttel feiert 2005 ein „Jahr der Geschichte“. Der AMJ machte aus diesem Anlass Michael Praetorius, der in Wolfenbüttel gearbeitet hat und hier begraben liegt, lebendig. Über den Raum des Konzertortes „Lindenhalle“ verteilt wurden drei Stücke aus der Tanzsammlung „Terpsichore“ unter der Leitung von Brunhilde Holderbach und Nicoline Winkler live gespielt und nach der überlieferten Originalanleitung vertanzt.
Mein Resümee? Ich zitiere Dr. Uli Kostenbader, Vizepräsident des Deutschen Musikrates aus seinem Grußschreiben an den AMJ: „Ich finde es außergewöhnlich, was auch in für Kultur und Musik nicht ganz einfachen Zeiten durch persönliches Engagement, Begeisterungsfähigkeit, Visionen und organisatorisches Geschick eben doch noch möglich ist in unserem Lande. Es wäre wunderbar, wenn diese ‚Jetzt-Erst-Recht-Stimmung’ in vielerlei Hinsicht ein Aufbruchsignal für musikalische Qualität und internationale Vernetzung sein und bleiben könnte. Ich meine jedenfalls, dass Sie stolz auf Ihr Unterfangen sein dürfen!“
Ich habe dem nichts hinzuzufügen - außer: „Herzlichen Glückwunsch AMJ!“