Banner Full-Size

Ein Rapper auf dem Klepper

Untertitel
Old Town Road (Remix; feat. Billy Ray Cyrus)
Publikationsdatum
Body

Vom College-Abbrecher zum umjubelten Musik-Star: das ist eines der „from rags to riches“-Narrative, wie sie in der populären Musik oft erzählt werden, Stories, die man in den USA liebt, halten sie doch den Mythos vom American Dream lebendig. Und den bedient „Old Town Road“, ein Mix aus Country und Rap, den Lil Nas X, ein 19-jähriger Rapper aus Atlanta, vorgelegt hat – zuerst solo, dann gemeinsam mit dem Country-Veteranen Billy Ray Cyrus. In den USA belegte der Song unglaubliche 19 Wochen lang Platz 1 der Billboard Hot 100 – das ist ein Rekord, sieht man von Bing Crosbys „White Christmas“ ab, das 1942, also vor der Erstellung dieser Charts, 31 Wochen lang die Single-Verkaufshitparade angeführt hatte.

„Old Town Road“ ist auch außerhalb der USA ungemein erfolgreich, der Titel stand unter anderem in Deutschland, Öster­reich, der Schweiz und Großbritannien auf Platz 1. Erfolgsgeschichten solcher Art sind in der populären Musik nicht selten, doch „Old Town Road“ erweist sich als Besonderheit: An diesem Song zeigt sich exemplarisch jener grundlegende Strukturwandel, der Produktion, Distribution und Rezeption populärer Musik in den letzten Jahren geradezu revolutionär verändert hat.

„Ein Hit muss natürlich für nichts stehen“, schreibt Andrew Chow im Time Magazine. „Aber der Aufstieg von Lil Nas X ist ein größerer Moment in unserer Kultur. Phänomene, die früher nur in digitalen Räumen existierten – die Vorstellung, jemanden zu canceln, die ansteckende Popularität von sinnlosem Zeug, der Aufstieg der Influencer-Kultur –, sind Teil des Alltags geworden. ‚Old Town Road‘ ist die Sensibilität des Internets, die durch das Gegenüberstellen von Gegensätzen gedeiht in einer Form, die im Autoradio oder beim Einkaufen im Supermarkt zu hören ist.“1

Produktion

Die Entstehungsgeschichte des Songs führt zurück ins Jahr 2008. Die Nine Inch Nails, ein US-amerikanisches Bandprojekt um den Multiinstrumentalisten Trent Reznor, veröffentlichten „Ghosts I-IV“, ein Doppelalbum mit 36 Instrumentalstücken: Diese „Soundtracks für Tagträume sind gedacht, um an einem regnerischen Tag oder bei einer langen Fahrt durch die Nacht gehört zu werden.“2 Stilistisch zwischen Ambient und Industrial Rock angesiedelt, wurden die Tracks unter einer Creative-Commons-Lizenz veröffentlich, die ersten neun Musikstücke standen sogar kostenlos zum Download bereit.

Zehn Jahre später, in der Nähe von Amsterdam. In seinem Heimstudio produziert Kiowa Roukema, ein 19-jähriger Designstudent, unter seinem Pseudonym YoungKio Beats und Tracks, die er auf der Plattform „Beatstars“ für 39,99 Dollar pro Stück zum Leasing anbietet. Einer dieser Beats basiert auf einem 15-sekündigen Sample aus „34 Ghost IV“ der Nine Inch Nails. Zu den zarten Banjo-Tönen des Samples hat YoungKio eine Hip-Hop-Rhythmusspur kreiert – mit genretypischen Sounds einer Roland TR 808 Rhythmusmaschine.

Diesen Beat kauft im Spätherbst 2018 ein gewisser Montero Lamar Hill aus Atlanta. Der 19-Jährige steht an einem Wendepunkt seines Lebens: Schon als Teenager hat er sich als „Lil Nas X“ im Internet einen Namen gemacht. Als Scheidungskind verbringt er viel Zeit alleine vor dem Computer, schneidet kurze, lustige Videos und lädt sie in sozialen Netzwerken hoch. So hat er sich eine stattliche Anhängerschaft verschafft, allein bei Twitter etwa eine sechsstellige Zahl an Followern. Und er kennt die Tricks des Internets: Presseberichten zufolge betreibt er mehrere Fan-Accounts für die Popsängerin Nicki Minaj. Über solche Konten verbreiten sich kurze Videos, wobei sich mehrere Konten systematisch gegenseitig retweeten, um damit möglichst hohe Zugriffszahlen zu generieren. Solches Tweet-Decking, ein bezahltes System, verstößt aber gegen die Richtlinien von Twitter. Deshalb sperrt Twitter mehrere Konten, unter anderem solche, die Lil Nas betreibt, was ihn dazu veranlasst, einmal mehr flugs ein neues Konto mit leicht verändertem Namen zu eröffnen und die Sperre zu unterlaufen. Zu diesem Zeitpunkt, im Herbst 2018, will sich Lil Nas ganz auf seine Musikprojekte verlegen und hat deshalb das College abgebrochen. Seine Schwester, bei der er zeitweilig wohnt, hat angekündigt, ihn wegen mangelnder Mithilfe vor die Tür zu setzen.

Lonesome Cowboy

„Ich habe diese Situation als Motivation genutzt“, twittert Lil Nas später. „Ich sah mich selbst scherzhaft/ernsthaft als einsamer Cowboy, der von all dem davonlaufen muss. Ich setzte mich bei meiner Schwester auf die Veranda und hörte den Beat wieder und immer wieder. Und da fiel es mir ein: Mit meiner schönsten Stimme sang ich: Ich führ mein Pferd zur alten Stadt-Straße, ich reite, bis ich nicht mehr kann. Ich mochte es sofort! Dann begann ich daran zu arbeiten, jeden Tag. Es musste lustig sein, es musste catchy sein, es musste HipHop sein, es musste Country sein, es musste kurz sein!“3 – eine Zielperspektive der Song-Produktion, die passgenau ist für die Distribution und Rezeption im Internet: Der erfahrene Internet-Kenner und Influencer Lil Nas beschreibt Merkmale, die eine Produktion aufweisen sollte, wenn sie im Netz wahrgenommen und verbreitet werden will. Eine weitere Eigenart der Produktion sollte sich als folgenreich erweisen: eine Faktur, die auf digitales Umgestalten, auf Remix und Variante angelegt ist, eine Machart, die zum Mitspielen und Mitalbern einlädt – aber davon später mehr.

Distribution und Rezeption

Am 2. Dezember 2018 produziert Lil Nas den Song im Studio und lädt ihn am gleichen Tag bei SoundCloud hoch, einer Plattform zum Austausch und zur Werbung für Musikstücke, und auch bei anderen Musikanbietern im Internet. Den Song stellt er unter die Rubrik „Country“, eine Strategie, die sich für die Distribution und Rezeption des Songs als überaus gewitzt erweisen soll:

• Bei „Country“, diesem von Weißen dominierten Genre, sind schwarze Künstler eine Seltenheit.
• Bei „Country“ sind im Vergleich zu Hip Hop weniger Klicks, Airplays, Streamingzahlen und Verkäufe erforderlich, um in die US-Charts zu kommen.4

Im Herbst 2018 ist „Red Dead Redemption 2“ auf den Markt gekommen, ein sehr erfolgreiches Computerspiel mit Schauplätzen im Wilden Westen. Ein Zusammenschnitt von Bildern aus diesem Spiel liefert eine erste Visualisierung von „Old Town Road“, die bei YouTube publiziert wird.

2018 läuft in sozialen Netzwerken, insbesondere bei Twitter, eine „Yeehaw Agenda“, bei der sich Menschen in Cowboykleidung präsentieren; Menschen schwarzer Hautfarbe beteiligen sich an einer „Black Yeehaw Agenda“.

Die Strategie zeitigt raschen Erfolg. Indify, eine Firma, die Daten aus Streaming und Klicks in sozialen Medien dazu nutzt, um potentielle Stars in einem frühen Stadium ihrer Karriere aufzuspüren, stellt Ende Dezember 2018 häufige Zugriffe auf „Old Town Road“ bei SoundCloud fest. Radiostationen nehmen den Titel daraufhin ins Programm. Das ist ungewöhnlich, weil der Song zu diesem Zeitpunkt noch nicht an ein Label vergeben ist, Label und Radiostationen aber normalerweise eng kooperieren: Ein Country Song etwa wird von einem Country-Label produziert und Country-Sendern zugeleitet, die den Titel dann senden. Auch kann man den Song noch nicht kaufen. Wie Phil Becker von Alpha Media, einem Netzwerk von etwa 200 Radiostationen, berichtet, spielen einige Sender Ende 2018 „Old Town Road“ mangels Alternativen per MP3-File ab, das aus YouTube gerippt worden ist.5

Ein entscheidender Schritt zum Welt­hit ereignet sich im Februar 2019: Der Song wird in TikTok integriert. Mit dieser App eines chinesischen Unternehmens erstellen User – über sechs Millionen davon gibt es allein in den USA – kurze Musik-Videoclips. Viele der 15 Sekunden langen Videos werden millionenfach geklickt. Die „Yeehaw Agenda“ bei Twitter wächst sich aus zur „Yeehaw Challenge“ bei TikTok. Viele User gestalten ihr „Old Town Road“-Selfie-Video in der Weise, dass sie beim Einsatz der ersten Strophe plötzlich in Cowboy-Verkleidung erscheinen. Die Zahl der TikTok-Videos mit „Old Town Road“ wird auf Hunderte von Millionen geschätzt, der bizarren und lus­tigen Cowboytänze in den Videos ist kein Ende.

Im März 2019 klinkt sich schließlich die Tonträgerindustrie ein. Mehrere Firmen umwerben den Jungstar, der Berichten zufolge ein siebenstellig dotiertes Angebot ausschlägt6 und schließlich bei Columbia – einem Label von Sony Music – unterschreibt. „Old Town Road“ steigt im März 2019 gleichzeitig in drei Charts ein, nämlich in die Billboard Hot 100, die Hot Country Songs und die Hot R&B/Hip-Hop-Songs-Charts, was in der Geschichte der Billboard-Charts eine Seltenheit markiert.

Von da an überschlagen sich die Ereignisse:

6. April 2019: Billboard beschließt, den Song aus den Country-Charts zu streichen. Zur Begründung erklärt das Unternehmen, dass der Song zwar Bezüge zu Country und Cowboy-Bildern aufweise, nicht aber „genügend Elemente der heutigen Country-Musik“ enthalte.7 Zudem habe die Plattenfirma den Song nicht als Country-Song promotet. Der Ausschluss von „Old Town Road“ führt zu heftiger Kritik in sozialen Netzwerken und zu einem öffentlichen Diskurs über Rassismus in der Musikindustrie.8

7. April 2019: Der Song erreicht Platz 1 der Hot 100.

Anfang April 2019: Ein Remix des Songs mit Country-Veteran Billy Ray Cyrus („Achy Breaky Heart“) wird produziert, ebenso ein Musikvideo im Western-Spielfilm- Stil.

14. April 2019: Der Remix erreicht Platz 1 der Hot 100. Soloversion und Remix mit Billy Ray Cyrus kommen zusammen auf 143 Millionen Streams in einer einzigen Woche. „Old Town Road“ liegt  in den folgenden acht Wochen weiterhin jeweils  über 100 Millionen Streams.

18. August 2019: „Old Town Road“ verlässt Platz 1 – nach 19 Wochen an der Spitze der Billboard Hot 100.

„This is your song now“

Im Zusammenhang mit der Country-Kontroverse ist der Mitschnitt eines Liveauftritts9 in der Grand Ole Opry in Nashville interessant, der Country-Herzkammer der USA. Billy Ray Cyrus spielt dort mit einer ausschließlich aus weißen Musikern bestehenden Begleitband. Lil Nas tritt nicht in Erscheinung. Als Gesangspartner kommt statt seiner Mason Ramsey auf die Bühne, ein 12-jähriger Country-Knabe. Nachdem sich Billy Ray Cyrus bei den Country-Fans als „den besten Fans auf der ganzen weiten Welt“ bedankt hat, kündigt er „Old Town Road“ an mit den Worten: „This is your song now“.10

Das Song-Arrangement in der Remix-Version kombiniert Instrumente und Sounds, die für Country (Banjo) und HipHop (Roland TR 808) typisch sind. Am Ende des Intros ist das Audiologo von YoungKio zu hören. Im spannungsreichen Kontrast stehen die Stimmen der beiden Leadsänger: Während Billy Ray Cyrus in Bariton-Lage seine krus­tig-heisere Country-Rock-Stimme hören lässt, platziert sich Lil Nas im cool-entspannten Bassregister.

So erweist sich „Old Town Road“ als Amalgam unterschiedlicher Genres und Kulturen, ein weiteres und besonders prominentes Beispiel in der Geschichte populärer Musik. Wie Ron Perry, Chef von Columbia Records, konstatiert: „Lil Nas hat es geschafft, kulturelle Barrieren sowie bereits exis­tierende Vorstellungen von Musikgenres abzubauen. Er ist authentisch und seiner Kunst treu geblieben – und das ist erst der Anfang.“11


Quellen

Anmerkungen

1  Chow 2019.
https://www.nin.com/discography/, Übers. BHo
https://twitter.com/LilNasX/status/1155911402827046913.
4  Der Musikmanager Danny Kang äußerte sich dazu so: „Auf SoundCloud hat er es als Country-Aufnahme gelistet, in iTunes hat er es als Country-Aufnahme gelistet. Er war dort unterwegs, um ein bisschen Zug in den Country Charts zu kriegen, und es gibt eine Möglichkeit, den Algorithmus so zu manipulieren, dass es den Track nach oben schiebt. Das ist günstig im Vergleich zum Versuch, im Rap-Format mit den beliebtesten Songs der Welt zu konkurrieren.“ (zit. nach Leigh 2019)
5  Zit. nach Leigh 2019.
https://www.musicbusinessworldwide.com/lil-nas-x-rejected-a-1-million-plus-deal-with-amuse-before-signing-to-columbia-records/
7  „While ‘Old Town Road’ incorporates references to country and cowboy imagery, it does not embrace enough elements of today’s country music to chart in its current version.” Zit. nach Delatto 2019.
8  Vgl. ebd.
https://www.youtube.com/watch?v=wHX7kWMiPGo
10 Ebd.
11 Chow 2019

Print-Rubriken
Unterrubrik
Musikgenre