Vor dem Hintergrund der aktuellen weltpolitischen Entwicklung bietet der Musikunterricht die Gelegenheit, sich mit dem reichen kulturellen Erbe der Ukraine auseinanderzusetzen. Deswegen haben wir uns kurzfristig entschlossen, Ihnen in diesem Monat ein Unterrichtsmodell zu dem bekannten ukrainischen Volkslied „Schtschedryk“ zur Verfügung zu stellen.
Vielen Leser*innen wird die Melodie unter dem Titel „Carol of the Bells“ bekannt sein. In dieser englischen Fassung ist es seit vielen Jahren regelmäßig bei Weihnachts- und Adventskonzerten zu hören. Besondere Popularität erreichte es durch die Verwendung im Film „Kevin – Allein zu Haus“ (1990, R.: J. Hughes), in dem es in einer Bearbeitung von John Williams zum Einsatz kam.
„Schtschedryk“
Das Lied „Schtschedryk“ (manchmal auch in den Schreibweisen „Schedrik“ oder „Shchedryk“ zu finden) ist eine Komposition beziehungsweise Bearbeitung für vierstimmigen Chor a cappella des ukrainischen Komponisten und Lehrers Mykola Leontovytch (1877–1921). Er schuf das Stück vermutlich 1916. Ausgangspunkt war dabei das markante viertönige Motiv, das offenbar tief in der ukrainischen Volksmusik verwurzelt ist und, wie auch in Leontovytchs Fassung, mit dem Neujahrsfest assoziiert wurde: Der Text stammt nicht vom Komponisten selbst, sondern geht vermutlich auf ein älteres ukrainisches Volkslied zurück.
Internationale Bekanntheit erlangte das Stück, als es 1921 vom ukrainischen Nationalchor in der Carnegie Hall aufgeführt wurde. Dort wurde der Komponist Peter J. Wilhousky auf „Schtschedryk“ aufmerksam und unterlegte Leontovytchs Musik die heute bekannte Textfassung „Carol of the Bells“. Später wurden noch weitere englische Textfassungen mit weihnachtlichem Bezug verfasst, eine der bekannteren davon ist „Ring, Christmas Bells“.
Musikalisch ist Leontovytchs Chorsatz ebenso schlicht wie effektiv. Er besteht aus zwei textgleichen Strophen und insgesamt 37 Takten Musik. In allen erklingt das charakteristische viertönige Motiv in einer der vier Chorstimmen, meist jedoch im Sopran. Die anderen Sänger*innen kleiden es in meist fließende Linien, die unterschiedliche Harmonien der Tonart g-Moll mehr oder weniger konkret darstellen. Einige homophone Passagen im Fortissimo in der Mitte des Stücks sorgen für dynamische Akzente. Ansonsten unterstützt die sparsame Form der Bearbeitung den volksliedhaften Charakter des Stücks auf effiziente Art und Weise.
Textlich erzählt „Schtschedryk“ von einer Schwalbe, die im Frühjahr zu einem Haus fliegt (in manchen Quellen ist vom Haus eines Wirts die Rede) und dem Hausherrn ein ertragreiches Jahr prophezeit – unter anderem werden frisch geborene Lämmer erwähnt.1 Die englische Textfassung von „Carol of the Bells“ verfolgt dagegen keine klare erzählerische Linie, sondern ist eine lose Aneinanderreihung von Bausteinen mit Bezug zu Glocken (mit deren Klang das ostinate Viertonmotiv gut assoziiert werden kann) und vermittelt eher die erregte Vorfreude auf Weihnachten.
Unterrichtsmaterialien
Nachfolgend werden einzelne Bausteine für die unterrichtliche Auseinandersetzung mit „Schtschedryk“ vorgestellt. Diese können Sie nach eigener Schwerpunktsetzung kombinieren. Sie finden alle Aufgabenstellungen mit einem Erwartungshorizont und Unterrichtszielen in einem Word-Dokument, das Sie über die unten genannte Internetadresse herunterladen und gegebenenfalls in einem individuell zusammengesetzten Arbeitsblatt kombinieren können.
Außerdem erhalten Sie unter dem gleichen Link ein Liedblatt zu „Schtschedryk“ mit zusätzlichen, fakultativen Spielmaterialien für Orff-Instrumente.
Werkbetrachtung
Die Werkbetrachtung von „Schtschedryk“ beginnt mit einem ersten Hören von Leontovytchs Fassung für vierstimmigen Chor (siehe Link unten). Dazu wird den Schüler*innen folgender Hörauftrag gegeben: „Du hörst ein bekanntes ukrainisches Volkslied. Lass die Stimmung des Lieds auf dich wirken und stelle dann eine Vermutung darüber an, zu welchem Anlass dieses Lied gesungen werden könnte. Begründe Deine Vermutung!“ Dieser Auftrag verfolgt zwei Ziele: Er hilft den Schüler*innen beim Hören fokussiert zu bleiben. Die Begründung der eigenen Assoziation fördert die fachbezogene Reflexions- und Argumentations-kompetenz.
Es ist dabei gut möglich, dass manchen Schüler*innen „Carol of the Bells“ bereits aus einem adventlichen oder weihnachtlichen Kontext bekannt ist und sie sich entsprechend äußern. Das kann neben anderen Einschätzungen stehen bleiben, möglicherweise mit dem kurzen Hinweis versehen, dass es auch eine Version des Lieds als Weihnachtslied gibt.
Im Anschluss an diese Erstbegegnung folgt ein kurzer Informations-Input zu Herkunft und Inhalt des Lieds. Hierzu finden Sie einen vorformulierten Textbaustein in den Materialien (siehe Link), den Sie ggf. auch in ein Arbeits- oder Infoblatt einbauen können. Nach der Klärung des Liedinhalts wird die musikalische Textur der Chorkomposition näher betrachtet. Die folgenden Arbeitsaufträge sind modular zu sehen. Je nach Leistungsfähigkeit Ihrer Klasse können diese unterschiedlich miteinander kombiniert werden.
Arbeitsauftrag 1: „Höre noch einmal die Aufnahme von ‚Schtschedryk‘. Welche Merkmale der Musik passen Deiner Meinung nach gut zum Inhalt des Liedtextes?“ Denkbare Antworten wären hierzu beispielsweise: „Die hohe Lage der Melodie und die vielen Wiederholungen des Motivs erinnern an das Zwitschern von Vögeln.“ „Das Tempo des Stücks passt gut zum schnellen Flug eines Vogels im Frühling.“ Sollte es sich anhand von Schüler*innenäußerungen ergeben, wäre auch eine Betrachtung der vorliegenden Tonart interessant. Dies könnte in eine lohnende Diskussion der Frage führen, in welchem Verhältnis Tonalität und Stimmung des Stücks zueinander stehen (Moll ist gleich „traurig“?).
Arbeitsauftrag 2: „Im Stück ‚Schtschedryk‘ wird zu Beginn 16-mal dasselbe Motiv in den hohen Frauenstimmen wiederholt. Untersuche den Rest der Noten. In wie vielen Takten kannst Du es ab Takt 17 noch finden? In welchen weiteren Stimmen des Chors taucht es auf?“ Für die Bearbeitung dieses Arbeitsauftrags ist es notwendig den Chorsatz als Kopie auszugeben. Einen Link zu einer gemeinfreien Kopiervorlage finden Sie in den Onlinematerialien zu diesem Beitrag. Alternativ ist es ebenso denkbar, das PDF auf Tablets zu laden, falls eine entsprechende Ausstattung vorhanden ist. Grundsätzliche Fertigkeiten im Lesen von Noten im Bassschlüssel sind hilfreich, aber nicht unbedingt notwendig, da auch ein Erkennen der Melodiekontur an dieser Stelle schon ausreichend sein kann.
Das Hörbeispiel muss während dieser Arbeitsphase nicht abgespielt werden. Nach der gemeinsamen Besprechung dieses Arbeitsauftrages wäre es allerdings empfehlenswert, in einem gemeinsamen, von der Lehrkraft geführten Hördurchgang mittels einer projizierten Partitur nachzuverfolgen, an welchen Stellen das Vier-Ton-Motiv besser zu hören ist und an welchen eher nicht – und welche Wirkung(en) die permanente Wiederholung entfaltet.
Arbeitsauftrag 3: „Im Jahr 1921, nur fünf Jahre nach seiner Entstehung, hörte der Amerikaner Peter J. Wilhousky ‚Schtschedryk‘ bei einem Konzert in New York. Es gefiel ihm so gut, dass er einen englischen Text mit dem Titel ‚Carol of the Bells‘ verfasste. Mit diesem Text ist die Musik auch als Weihnachtslied bekannt geworden. Höre ‚Schtschedryk‘ mit diesem neuen Text. Welche Teile der Musik könnten Wilhousky an Glocken erinnert haben?“
Denkbare Antworten wären hierzu beispielweise: „Die häufige Wiederholung eines einzelnen Motivs in hoher Lage könnte als Analogie zu Glockenläuten gehört werden.“ „Die in Takt 5–12 absteigenden Linien in Alt und Tenor könnten an langsamere Glockenschläge größerer Glocken erinnern.“ Je nach Zeitbudget ist hier noch eine optionale Ergänzungsfrage denkbar: „Welche Textfassung findest Du für die Musik passender? ‚Schtschedryk‘ oder ‚Carol of the Bells‘? Begründe Deine Meinung!“
Als Abrundung der Werkbetrachtung (und eines Stundenmodells, in dem eine Liedeinstudierung nicht im Zentrum steht) bietet sich ein Hördurchgang von „The Little Swallow“ an. Dabei handelt es sich um eine Version von „Schtschedryk“ der britisch-georgischen Sängerin Katie Melua, welche diese mit dem georgischen „Gori Women’s Choir“ aufgenommen hat. Denkbar wäre, dass die Schüler*innen im Vorfeld in einer kurzen Internetrecherche untersuchen, wie weit die Länder Georgien und Ukraine voneinander entfernt sind und Vermutungen formulieren, was die Sängerin Melua bewogen haben könnte, „Schtschedryk“ zu „covern“. Alternativ wäre aber auch eine einfache abschließende Hörphase dieser Version ohne zusätzlichen Arbeitsauftrag möglich.
Liedeinstudierung mit optionalem Klassenmusizieren
Für eine Liedeinstudierung wurde „Schtschedryk“ um eine kleine Terz nach unten in die Tonart e-Moll transponiert (siehe Link). Bei einem Ambitus von einer Undezim (h-e‘‘) stellt dies einen denkbaren Kompromiss für die Singbarkeit in einer geübten Klasse der Sekundarstufe I dar. Für die Spitzentöne in Takt 21 liegt in Stichnoten außerdem eine etwas tiefer liegende melodische Alternative vor.
Der Text wurde vom Original, das in einer Variante des kyrillischen Alphabets vorliegt, in eine Transliteration übertragen. Auch wegen des vergleichsweise hohen Tempos des Lieds mussten dabei viele Besonderheiten der ukrainischen Aussprache zugunsten der Singbarkeit unberücksichtigt bleiben. Folgende Besonderheiten der Aussprache wurden jedoch bei der Übertragung differenziert bzw. können in die Erarbeitung der Aussprache einbezogen werden: „Schtschedryk“ ist in dieser Schreibweise in vielen deutschsprachigen (Online-)Quellen zu finden. Im ukrainischen Original ist der Anfangskonsonant eine palatalisierte Variante des „sch“, die es im Deutschen nicht gibt. Um dies zu vereinfachen, wurde die Aussprache des Liedtitels und aller nachfolgenden Analogstellen im Liedverlauf in „Schjädrik“ umgewandelt. „Y“ in der vorliegenden Übertragung steht für den kyrillischen Vokal: Hierbei handelt es sich um einen Klang zwischen unserem „u“ und „i“. Als Vorstellungshilfe kann folgende Faustregel helfen: „Forme mit der Zunge ein ‚u‘, lächle aber bei der Aussprache mit leicht geöffnetem Mund.“ Das „gh“ (zum Beispiel bei „jaghnitschki“ in Takt 15) ist ein sehr weiches „g“ mit etwas stimmhaftem Anteil (ähnlich einem deutschen „ch“). Das „sch“ bei „schinka“ ist stimmhaft (ähnlich wie im Wort „Genie“).
Die Akkordbegleitung auf dem Liedblatt orientiert sich weitgehend an der Harmonisierung Leontovytchs und ergänzt diese an den Stellen, wo der Satz im Original uneindeutig bleibt. Neben dem Liedblatt finden Sie auf der Download-Seite außerdem noch Spielmaterialien für Orff-Instrumentarium, das sich an Linien aus dem Chorsatz orientiert. So können Sie je nach Bedarf und Möglichkeiten die Liedeinstudierung ergänzen.
1 An dieser Stelle gilt ein besonderer Dank Frau Viktoria Mayer, die dem Verfasser bei der Textübertragung sachkundige Hilfe leistete.
Unter vbsmusik.de/schtschedryk finden Sie Links zu den im Beitrag genannten Aufnahmen/Unterrichtsmaterialien in unterschiedlichen Dateiformaten.