Am 9. November 2024 ging eine Ära zu Ende: Wilhelm Lehr, Ehrenvorsitzender des Verbands Bayerischer Schulmusiker und jahrzehntelang einer der engagiertesten Fürsprecher musikalischer Bildung in Bayern, verabschiedete sich aus dem Amt des Vizepräsidenten des Bayerischen Musikrats: Anlass für einen Rückblick auf einsatz- und ereignisreiche Jahrzehnte im Dienste der Schulmusik.
Schulmusik braucht eine Lobby!
Im „Rosenkavalier“ lassen Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal die alternde Marschallin über die Zeit reflektieren, wenn sie singt: „Die Zeit, die ist ein sonderbar Ding“. Auch wenn die Marschallin auf ihr zweifelhaftes Verhältnis zu einem Jungen anspielt, der noch nicht einmal den Stimmwechsel hinter sich hat (deshalb wohl die Hosenrolle), könnten wir Ehemalige auch über die Besonderheiten der Zeit sinnieren, wenn wir über unsere nun doch schon lange zurückliegende Schulzeit, über den beruflichen Werdegang und über die persönlichen Stationen des Lebens nachdenken.
Am Ende der eigenen Schulzeit freut man sich erst einmal, es geschafft zu haben und zu neuen Ufern aufbrechen zu können. Dann durchlaufen wir nach und nach viele verschiedene Lebensabschnitte und Rollen, die uns jeweils sehr wichtig vorkommen. Nach der Pensionierung dann erlebt man eine neue, von beruflichen Verpflichtungen unabhängige Phase. Ja, die Zeit ist ein sonderbar Ding. Und rückblickend erscheint mancher Lebensabschnitt in ganz neuer Beleuchtung.
Positiv geprägt durch die Schule
Wenn ich heute auf meine Schulzeit bei den Regensburger Domspatzen und am Camerloher Gymnasium zurückblicke, dann schätze ich meine Schulzeit sehr, dann möchte ich es gerne mit Ludwig Börne halten: „Die Lebenskraft eines Zeitalters liegt nicht in seiner Ernte, sondern in seiner Aussaat“. Zweifellos hat uns die Schule in ihrer Ganzheit geprägt. Bei den Domspatzen brachte ich es (fast ganz unbewusst) bis zum Alt-Solisten und am Camerloher-Gymnasium in Freising genoss ich die freie musikalische Entwicklung im Klassenverband und in der familiären Umgebung. Da mein Vater als Schulmusiker sehr engagiert arbeitete, konnte ich sozusagen mehrfach profitieren: vom schulischen Musikunterricht und von der häuslichen Musikpflege.
Mich persönlich hat auch die Klassengemeinschaft, besonders aber das Musikleben an der Schule geprägt. Und nicht nur musikalisch fühlte ich mich auf mein Berufsleben vorbereitet. So wagte ich gleich nach dem Abitur 1966 die Aufnahmeprüfung an die Musikhochschule München, obwohl ich sowohl in Klavier als auch in Violine nur den schulischen Instrumentalunterricht besucht hatte. Glücklicherweise bestand ich auf Anhieb, denn nach der folgenden 18-monatigen Bundeswehrzeit als Gebirgsjäger wäre das kaum möglich gewesen. Das sofortige Bestehen der Aufnahmeprüfung ohne weitere Fördermaßnahme kann durchaus als Kompliment an meine Musiklehrer gewertet werden, denn niemals hatte ich Privatunterricht. Mein Erfolg verdankte sich also vollständig dem Gruppen- und Wahlunterricht der Schule. Im Rückblick eines Ehemaligen kann ich sagen: Sowohl von der Schule insgesamt als auch durch die Musiklehrer war ich für meine Ziele bestens vorbereitet.
Studium und Referendariat
Es folgten 8 Semester Studium der Schulmusik an der Musikhochschule in München und das Referendariat am Theresien-Gymnasium München. Im Zweigschuleinsatz am (Musischen) Gymnasium St. Gotthard in Niederaltaich genoss ich es ausgiebig, meine musikpraktischen Erfahrungen aus meiner Schulzeit und meine durch das Studium erworbenen Fähigkeiten mit Schülern umsetzen zu dürfen. Es gefiel mir so gut, dass ich mich aus dem Staatsdienst an diese kirchliche Schule beurlauben ließ. Doch bald begriff ich, dass ich zwar ein Fach studiert, aber keinen Beruf erlernt hatte. Deshalb studierte ich an der Universität Regensburg im Zweitstudium Pädagogik (Nebenfach Musikwissenschaft) und durfte erleben, wie dumm Bürokratie daherkommen kann: Mein Staatsexamen als Schulmusiker wurde in Pädagogik als Vordiplom anerkannt, in Musikwissenschaft jedoch musste ich alle Scheine des Grundstudiums erneut erbringen.
Referatsleiter in Dillingen
Diese Ausgangslage – Domspatz, Musisches Gymnasium, Staatsexamen Schulmusik, Zweitstudium Pädagogik/ Musikwissenschaft – war wohl der Grund, dass ich bereits 1980, also gerade mal 33 Jahre alt, als Referatsleiter für Musik mit der Zuständigkeit für alle Schularten an die Akademie für Lehrerfortbildung nach Dillingen berufen wurde. Dort plante und organisierte ich mit großer Begeisterung und mit bester Anerkennung durch meine Vorgesetzten ein Jahrzehnt lang die Musiklehrgänge. Zu den besten Zeiten dort hatte ich 30 Wochenlehrgänge in Präsenz pro Jahr, einige Jahre lang noch hauptamtlich unterstützt von Rektor Helmut Maschke für die Grundschullehrgänge.
Im Rückblick will ich den Leser nicht mit langatmigen Berichten über Konzeption und Tätigkeit an der Akademie befassen. Nur so viel sei gesagt: Wichtige Maximen erwuchsen stets aus meiner persönlichen Erfahrung und damit auch aus der Basis meiner Schulbildung. Musik lehren und lernen hat immer zu tun mit praktischem Tun, mit individuellem und sozialem Erleben, mit hartnäckigem Üben, mit Qualifizierung und der daraus erwachsenden Freude. Musikvermittlung ist ein unverzichtbarer und elementarer Bestandteil der Bildung.
Refugium in der Provinz
Nach zehn Jahren an der Akademie wollte ich zurück in die schulische Praxis. So wurde ich 1989 Schulleiter am Gymnasium in Bogen. Das Veit-Höser-Gymnasium Bogen war damals eine sehr junge Schule und im Aufbau, vieles konnte man noch von Grund auf gestalten. Als engagierter Verfechter der Bildungsidee, die für mich in der internationalen Arbeit der UNESCO gipfelte, formte ich das Gymnasium zur anerkannten UNESCO-Projektschule.
Trotz aller Begeisterung für die Arbeit in Bogen hatte ich aber die Rechnung ohne meine Familie gemacht, die mittlerweile tief in Dillingen verwurzelt war. Wir hatten 1982 einen Bauernhof gekauft und entwickelten zunehmend einen Nebenerwerbsbetrieb zum Halten und Züchten von Pferden. Deshalb wechselte ich 1993 als Schulleiter an das Theodor-Heuss-Gymnasium nach Nördlingen. Dort blieb ich bis zu meiner Pensionierung 2010.
Als ehemaliger „Camerloher“, der ja eigentlich immer zurück nach Freising beziehungsweise in die Region München hatte ziehen wollen, lernte ich nun die Vorzüge des Lebens in der Provinz zu nutzen und zu genießen. Das rate ich übrigens allen Schulmusikern, die mit dem Schicksal hadern, wenn sie zunächst „aufs Land“ versetzt werden! In der Provinz schufen wir uns ein Refugium, das für Familie und Beruf einen energiespendenden Hafen darstellte.
Ehrenamtliches Engagement
Aus der Überzeugung, dass Kunst und Musik stets Fürsprecher brauchen, engagierte ich mich vom Beginn meines Berufslebens an ehrenamtlich in Verbänden. Noch in meiner „Dillinger Zeit“ war ich Vorsitzender des Verbands bayerischer Schulmusiker (VBS), dessen Ehrenvorsitzender ich heute bin. 1989 wurde ich in das Präsidium des Bayerischen Musikrats (BMR) gewählt, der als Dachorganisation immerhin an die 60 Musikverbände in Bayern repräsentiert. 2010 wurde ich dann als Stellvertreter von Dr. Thomas Goppel Vizepräsident des BMR – und blieb es bis zum 9. November 2024. Als solcher vertrat ich die bayerischen Musikverbände auch im Medienrat der Bayerischen Landeszentrale für neue Medien (BLM). Die Ernennung zum Ehrenmitglied des BMR und die Verleihung des „Silbernen Wirbels“ haben mich sehr gefreut!
Musik braucht eine starke Lobby
In der Familie, in der Schule und im Studium wurde die Liebe zur Musik grundgelegt. Die Saat ging auf, und so betrachte ich meine schulische Vergangenheit mit einer gewissen Ehrfurcht. Ja, immer mehr, je größer der zeitliche Abstand wird. Ja, die Zeit ist ein sonderbar Ding…
Meine Grundforderung, auch für die Zukunft: totale und gleichberechtigte Anerkennung der Musik in der menschlichen Kultur und im Bildungswesen. Musik darf nicht Beiwerk und Zusatznutzen sein, sondern muss im Rahmen der humanen Ästhetik als Lebenselixier erkannt und gewürdigt werden. Wir brauchen wieder einen allgemein anerkannten Bildungsbegriff, der von Qualifikation, Sozialisation und Personalisation gleichermaßen geprägt wird.
Daraus resultieren die altbekannten Forderungen: nach Gleichbehandlung der Lehrkräfte im Stundenmaß einer Schulart, nach Gleichwertigkeit der Fächer in der Einbringungsverpflichtung, nach Berücksichtigung der musikalischen Ausbildung in der Nachmittagsbetreuung. Daraus resultiert auch die Forderung nach Gleichheit in der finanziellen Förderung der Musik (etwa im Vergleich zum Sport), nach Förderung der Musik und Kultur in den Medien und im öffentlichen Angebot.
Schon in den Zeiten meines beruflichen Anfangs war mir klar, dass Musik immer eine starke und kompetente Lobby braucht. Zwei Dinge sind dabei von Bedeutung: großes und breit angelegtes musikalisches Wissen und Können (musikwissenschaftlich und musikpraktisch) und politische Durchsetzungsfähigkeit. So wünsche ich auch in Zukunft den Musikverbänden und der Dachorganisation – dem Musikrat – beste Fachleute und engagierte Politiker.
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