Keine Angst, dies ist nicht noch ein Bericht über die erforderlichen Abstände, die unseren Alltag seit nunmehr zwei Jahren prägen. „Optimale Distanz“ – mit diesem Begriffspaar beschreibt der Klarinettist und Komponist Helmut Eisel die Entfernung zwischen Klezmer und den uns bekannten Hör- und Musiziergewohnheiten. Es ist eine Distanz, die groß genug ist, um Neugier am „Unbekannten“ zu wecken und zugleich ausreichend klein ist, um nicht entmutigend zu wirken – ideal also, um Künstler*innen inspirierende Erfahrungsräume zu eröffnen.
In einer Reihe von Kursen widmet sich der Programmbereich Musik der Bundesakademie für Kulturelle Bildung Wolfenbüttel ab September 2022 dem Phänomen Klezmer und möchte dadurch Musikschaffenden den Reichtum dieses Genres näherbringen. „Es ist ein riesig-komplexes Gebiet und ich beschäftige mich seit weit über 30 Jahren damit“, sagt Helmut Eisel, der die Kurse gemeinsam mit der Akkordeonistin und Sängerin Ramona Kozma und der Klarinettistin und Musikpädagogin Hannah Heuking leiten wird. Auf seine Erfahrungen mit Klezmer-Musik hin befragt, ergänzt Eisel: „Ich mache schon länger Musik, aber damals habe ich Giora Feidman kennengelernt und es war tatsächlich nicht alles neu, was er mir erzählt hat, aber es war eine neue Möglichkeit, Vieles auszudrücken.“ Helmut Eisel hat lange mit Feidman zusammengearbeitet. Vieles, was er über Klezmer weiß, hat er durch ihn erfahren.
Es waren aber nicht nur Tonleitern, Rhythmen, Melodien und Kompositionen, über die sie sich austauschten. Feidman ermöglichte Eisel tiefe Einblicke in die Kultur und Geschichte dieser Musik: „Giora Feidman stammt aus einer Klezmer-Dynastie. Viele Generationen vor ihm waren bereits Klezmer-Musiker, aber das Riesenproblem ist: Die Juden mögen Klezmer nicht. Warum? Klezmer ist keine hochstehende Musik, es ist eine Landstreicher-Musik – man braucht sie, aber man achtet sie nicht“, erläutert Helmut Eisel und erinnert sich, wie Feidman ihm von der bewegten Geschichte des Klezmers erzählte, einer Geschichte, die von Beginn an durch den Zwang zur Anpassung, der Bereitschaft zur Flexibilität und dem Willen zur Offenheit geprägt war: „Es gab schon immer jüdische Musiker, aber in etablierten Zünften wie etwa bei den Stadtpfeifern wurden sie nicht geduldet. Das heißt, wenn sie Musik auf professionellem Niveau machen wollten, blieb ihnen keine andere Wahl als auf Wanderschaft zu gehen und zu schauen, wo ihr Talent gebraucht wurde, und das war meistens auf Hochzeiten oder anderen großen Festen.
Deswegen zogen sie durch die Gegend und das begründete letztendlich dieses ganze Dasein der Klezmorim (= Klezmer-Musikanten).“ Auf ihrer Wanderschaft mussten sich die Klezmorim immer wieder kurzfristig auf musikalische Gegebenheiten einstellen. Auf diese Weise entstand eine Art Basisrepertoire, in dem unterschiedliche Stile und Spielarten verschmolzen und weitergegeben wurden. Helmut Eisel hat ähnliche Erfahrungen gemacht: „Bei meinen ersten Konzerten in Israel hieß es oft: ‚Was du spielst, gefällt uns gut. Kannst du vielleicht bei der Bar Mitzwa von unserem Sohn auftreten? Aber bitte spiel’ keinen Klezmer, sondern diesen Jazz, den ihr da macht. Der klingt mir so angenehm vertraut.‘ Was habe ich gemacht? Ich habe Klezmer-Musik gespielt und habe Improvisationen eingestreut. Das war für die Leute – Gott sei Dank – kein Klezmer.“
Wenn Helmut Eisel heutzutage auf der Bühne steht oder im Workshop über Klezmer spricht, dann ist es diese dem Klezmer inhärente Offenheit, die er den Menschen näherbringt: „Schauen wir das Wort ‚Klezmer‘ an; es bedeutet zunächst einmal ‚Musiker‘. Klezmer ist ein aramäisches Wort mit den Stammsilben ‚kli‘ (Gefäß) und ‚zemer‘ (Musik). Ein Musiker ist also ein Gefäß der Musik. Daraus kann man viele Dinge ableiten. Dass beispielsweise ein Musiker keine Musik schafft, sondern Musik weitergibt – also die Idee ‚ich höre das Universum, ich bin offen für das, was ich dort wahrnehme und versuche das möglichst unverfälscht weiterzugeben‘. Das ist eine völlig andere Idee als ‚ich kaufe mir Noten und versuche die so blattgetreu wie möglich wiederzugeben.“ Mit seiner Arbeit als Interpret und Pädagoge möchte Helmut Eisel den Menschen etwas von dieser Haltung, von diesem Verständnis von Musik weitergeben. „Wir können sehr viel tun in der Richtung, dass wir Leuten zeigen, wie man miteinander umgehen kann. Das Orpheus Chamber Orchestra ist ein wunderbares Beispiel dafür. Das ist ein Orchester, das ohne Dirigenten auskommt. Da steht nicht jemand vorne, der sagt ‚Hier geht’s lang, jetzt wird angefangen‘, sondern die Musiker kriegen das unter sich raus. Aber ohne zu wissen, was die anderen tun, geht das nicht. Das Modell ist nicht neu, aber die Möglichkeit, dass wir diese Dinge in unserer täglichen Arbeit anwenden, bietet sich stets von Neuem; dann müssen wir ganz rudimentäre Dinge richtig machen: Wir müssen einander zuhören, wir dürfen nicht sagen ‚ich weiß genau, wie es geht und der andere soll sich gefälligst nach mir richten. Wir müssen schauen, was die anderen im Gepäck haben, was ich vielleicht noch gar nicht kenne, was aber ganz toll ist. Wir müssen diese Kommunikation aufbauen, wir müssen gegenseitige Wertschätzung und Achtung aufbauen und dann haben wir die Chance, das Bestmögliche aus der Situation zu machen.“
Bei der Beschäftigung mit Musik anderer Kulturen bietet Klezmer – davon sind Helmut Eisel, Ramona Kozma und Hannah Heuking überzeugt – ideale Voraussetzungen: „Wenn wir Improvisationsarbeit machen und wir arbeiten mit Klezmer-Musik, dann haben wir so eine Art ‚optimale Distanz‘, es klingt angenehm fremd – es klingt fremd, aber ich kann noch damit umgehen, und deswegen ist diese Musik für uns eigentlich optimal, um frei damit zu arbeiten.“ In den Kursen, die ab Herbst 2022 an der Bundesakademie Wolfenbüttel stattfinden, werden all diese Aspekte eine Rolle spielen: „Wir wollen, dass die Teilnehmenden mit einem erweiterten Bewusstsein von Musik rausgehen, mit einem erweiterten Bewusstsein davon, was sie damit machen können.“