Hendrike Rossel, seit 1991 Bildungsreferentin und Projektleiterin beim VdM, hat sich im Januar 2022 in den Vorruhestand verabschiedet. Nach ihrem Studium der Romanistik, Geschichte und Musik für das Gymnasiallehramt promovierte sie im Fach Musikpädagogik und absolvierte anschließend ihr Referendariat am Gymnasium Wuppertal-Vohwinkel. An der Rheinischen Musikschule der Stadt Köln war sie als Lehrkraft für Musikalische Grundausbildung tätig, an einer Bonner Musikschule unterrichtete sie Musikalische Früherziehung, Querflöte, Blockflöte und Kammermusik. Privat war und ist sie – sowohl mit der Flöte als auch mit der Geige – eine begeisterte Kammer- und Sinfonieorchestermusikerin. Für die nmz sprach Barbara Haack mit ihr über ihre Zeit beim VdM.
neue musikzeitung: Erst vor einigen Tagen wurdest du beim VdM verabschiedet. Wie geht es dir nach den ersten Erfahrungen im neuen Lebensabschnitt?
Hendrike Rossel: Ich habe noch nicht ganz gemerkt, dass ein Abschnitt zu Ende gegangen ist, weil ich noch viel mit meinen Gedanken dabei bin, weil ich auch zu Hause meine Unterlagen durchgehe, dabei immer wieder in die Rückschau komme: Was war in all den Jahren? Es hat mich sehr berührt, wie ich verabschiedet worden bin, von Matthias Pannes als Geschäftsführer, von vielen Menschen aus ehemaligen Arbeitszusammenhängen wie zum Beispiel im VdM-Bundesvorstand und natürlich von meinen Kolleginnen und Kollegen. Da geht man mit einer großen Dankbarkeit und einer großen Freude darüber, viele schöne Dinge erlebt zu haben.
nmz: Du hast während deiner langen Zeit beim VdM ganz unterschiedliche Projekte betreut. Zu Beginn war es unter anderem die Deutsche Streicherphilharmonie, nach wie vor ein sehr wichtiges Projekt des VdM.
Rossel: Ich bin am 1. September 1991 beim VdM eingestiegen. Ein Grund war, dass man eine Projektleiterin für das Orchester brauchte, das der VdM am Anfang dieses Jahres übernommen hatte. Das war zuvor das Rundfunk-Musikschulorchester der DDR gewesen. Der VdM übernahm 1991 die Trägerschaft. Es hieß dann für viele Jahre Deutsches Musikschulorchester. Im Herbst hatten wir – nach einem ersten gesamtdeutschen Probespiel – die erste gemeinsame Probenphase.
nmz: Wie hast du dieses Orchester erlebt? Wie waren die ersten Erfahrungen?
Rossel: Ich fand es unglaublich schön, mit diesen jungen Menschen zusammenarbeiten zu dürfen, auch mit dem Dirigenten Jörg-Peter Weigle und den Dozenten aus dem Rundfunksinfonieorchester Berlin. Das war ein phantastisches Team, sie wussten genau, was man aus den jungen Menschen machen kann, in ihrer Persönlichkeitsentwicklung und ihrer Entwicklung auf dem Instrument. Gleichzeitig haben sie eine unglaubliche Freude am Musizieren vermittelt. Das hat mich mitgerissen.
In den ersten beiden Jahren habe ich da auch deutsche Geschichte hautnah miterlebt. Es gab bei den Menschen, die aus den neuen Bundesländern kamen, zunächst eine gewisse Vorsicht gegenüber allem, was institutionalisiert oder staatlich gefördert schien. Ich habe mich immer bemüht zu verstehen, was unausgesprochen in den Köpfen vorging. Ich wollte nie ein Besserwessi sein, weil ich sah, welch hervorragende Arbeit da geleistet wurde und welch großartige Gemeinschaft zu uns gekommen war. Aber es brauchte eine Kennenlernphase und gegenseitige Abstimmung. Daraus sind Freundschaften erwachsen, ein wunderbares Zusammenarbeiten, das mir, als ich mich entschied die Gesamtleitung abzugeben, sehr gefehlt hat.
nmz: Waren es am Anfang nur oder vorwiegend junge Musikerinnen und Musiker aus den so genannten neuen Bundesländern?
Rossel: Bei der ersten Proben- und Konzertphase kam der Großteil noch hauptsächlich aus den neuen Bundesländern. Es gab aber auch Kinder aus Niedersachsen, aus Bayern, aus dem Rheinland. Das war ein kleiner Prozentsatz, aber sie haben sich sehr schnell angefreundet. Wir hatten zwei Dreizehnjährige, ein Mädchen aus Dresden, ein anderes aus Hannover, die es ab dem ersten Tag nur noch im Doppelpack gab. Das gab Hoffnung, dass die junge Generation schnell die Grenzen überwinden würde.
nmz: Wie ist dein Eindruck von dem Orchester heute? Wie hat es sich entwickelt?
Rossel: Es hat sich fantastisch weiterentwickelt. Es gab eine ganze Reihe an Dirigenten, die ihren Fußabdruck positiv im Orchester hinterlassen haben. Es ist weiterhin so, dass die Dozenten aus dem Rundfunksinfonieorchester Berlin, inzwischen schon die nächsten Generationen, ihr Fachwissen einbringen. Ich habe vor allem das Gefühl, dass das Orchester seit einigen Jahren auf den Konzertbühnen angekommen ist. Am Anfang musste man erst einmal deutlich machen, dass es zwar Kinder und Jugendliche sind, die aber wie Profis spielen. Und sie vermitteln eine große Begeisterung, die ungemein berührt. Dies im Zusammenhang mit technischer Perfektion: Etwas Besseres kann man über ein Orchester nicht sagen.
nmz: Ein zweiter Schwerpunkt deiner Arbeit waren die Kooperationen, ein Thema, das sich in den vielen Jahren enorm entwickelt hat. Am Anfang gab es wohl Skepsis, auf Seiten der zuständigen Verbände, aber auch zwischen den Institutionen, Musikschulen auf der einen Seite, Kindertagesstätten oder allgemeinbildende Schulen auf der anderen Seite. Wie hast du diese Entwicklung erlebt?
Rossel: Da hat sich viel getan. Begonnen hat es für mich mit der Frage: Was machen Musikschulen, was machen allgemeinbildende Schulen, wo kann man Synergien finden, wie kann man zusammenarbeiten, um in der politischen Landschaft als Team für musikalische Bildung sichtbar zu sein und damit dann auch die nötige Unterstützung zu erfahren?
Die erste Kooperationsvereinbarung zwischen dem VdM und dem damaligen Verband deutscher Schulmusiker VDS datiert übrigens schon aus dem Jahr 1979. Das Thema wurde dann sehr viel drängender, weil die Bedingungen in den allgemeinbildenden Schulen für die künstlerischen Fächer zum Teil alarmierend waren und weil auch, sehr stark politisch gefördert, der Wille zur Ganztagsschule stärker wurde. Man hat hier eine Chance und eine Notwendigkeit gesehen, in der Zusammenarbeit zwischen Musikschulen und allgemeinbildenden Schulen im Ganztagsbereich musikalische und künstlerische Themen zu platzieren. Es gab bereits viele Musikschulen, die vor Ort in dieser Richtung arbeiteten. Meine erste Aufgabe war es zu sammeln, welche Kooperationsformen es an einzelnen Musikschulen, in einzelnen Kommunen gab, auf welcher Basis, organisatorisch und inhaltlich, sie funktionierten. Auch auf Landesebene gab es schon einige Kooperationsvereinbarungen, die die kommunalen Schritte erleichterten. Die erste Arbeitshilfe, die ich dazu geschrieben habe, war eine Kompilation und eine Zusammenstellung wichtiger Schritte, damit eine solche Kooperation funktionieren kann. Daraus haben sich weitere Projekte entwickelt. Dann ging der Blick auch zu den Kindertagesstätten und der Frage, wie man bereits dort musikalische Bildung vermitteln kann, damit alle Kinder die Chance haben, in dieses Thema eingeführt zu werden.
nmz: Welche Rolle haben Projekte wie JeKi und Folgeprojekte in anderen Bundesländern gespielt?
Rossel: Teilweise hat man sich befruchtet. Man musste aber auch kritisch hinterfragen, ob tatsächlich auf diesem Weg qualitätvolle musikalische Bildung und Nachhaltigkeit möglich sind.
nmz: Diese Kooperationen sind ja für alle Beteiligten heute ein ganz wichtiges Feld. Trotzdem sieht es so aus, dass es noch Verbesserungsbedarf gibt, weil es nicht überall gut funktioniert, sei es aus organisatorischen Gründen, vielleicht auch aus gegenseitiger Skepsis heraus, oder wegen der unterschiedlichen Bezahlung der Lehrkräfte. Wenn du heute darauf schaust: Was läuft gut? Was fehlt?
Rossel: Es fehlt immer noch eine Selbstverständlichkeit hinsichtlich dieses Themas. Auf der Ebene der Politik dürfte das kein Punkt mehr sein, der diskutiert werden muss. Das haben der Bundesverband Musikunterricht (BMU) und der VdM immer wieder versucht, mit Appellen an die Öffentlichkeit deutlich zu machen: Es braucht an den allgemeinbildenden Schulen Zeiten und Räume für Musik, und es muss Geld dafür da sein, solche Initiativen langfristig zu fördern. Es bringt nichts, wenn man einem Kind für ein Jahr ein Instrument in die Hand drückt und es danach alleine lässt.
Es spielt natürlich immer auch eine Rolle, welche Persönlichkeiten im Alltag aufeinander treffen. Ob der Schulleiter oder die Musiklehrerschaft einer Schule das Interesse daran haben oder lieber ihr eigenes Ding machen, ob Musikschulleiter und -lehrkräfte bereit sind, diese zusätzliche Anstrengung auf sich zu nehmen.
nmz: Den Überblick nicht nur über dieses Thema, sondern auch über andere Aktivitäten des VdM hast du auch, weil du den Jahresbericht des Verbandes verantwortet hast, der alle Projekte und Aktivitäten des VdM beschreibt. Gibt es etwas in dieser Geschichte des VdM, das aus deiner Sicht besonders bemerkenswert war oder ist?
Rossel: Es würde mir schwerfallen, ein einzelnes Highlight herauszustellen. Was mich immer wieder fasziniert hat, war zu sehen, was jeweils in einem Jahr von diesem Verband geleis-tet wurde. Da gab es einen Kongress oder eine Hauptarbeitstagung, ein Herbstsymposium, weitere Tagungen, neue Projekte wie zum Beispiel „Kultur macht stark“. In der Abfolge der Jahre sieht man, dass inhaltliche Themen für die konkrete Arbeit des Musikschullehrers oder -leiters vor Ort im Zentrum standen, gleichzeitig immer die strukturelle und politische Entwicklung der Musikschullandschaft, die Arbeit mit den Landesverbänden und mit vielen kulturellen Partnern im Blick behalten wurde.
nmz: Worauf kann der VdM besonders stolz sein?
Rossel: Ich denke darauf, dass sich die Fragestellungen immer weiterentwickelt haben, immer am Puls der Zeit waren und sind. Der VdM hat seine Arbeit angesichts der gesellschaftlichen Entwicklungen immer auf den Prüfstand gestellt; wenn Handlungsbedarf bestand, hat er sich neuen Themen zugewandt.
nmz: Unser gemeinsames Herzensprojekt ist der LEOPOLD, die Auszeichnung für gute Musik für Kinder. Wie kam es zu dem Preis, und wie hat er sich entwickelt?
Rossel: Es gab zwei Auslöser. Reinhart von Gutzeit, damals VdM-Vorsitzender, wurde von einem Kollegen angesprochen mit der Frage aus seiner Musikschulelternschaft, ob es nicht Hörmedienempfehlungen gebe. Auf einer Vorstandssitzung brachte dann ein Vorstandsmitglied eine Musikkassette mit: das Lied vom Bi-Ba-Butzemann, das als solches nicht mehr zu erkennen war. Beschallt wurden wir stattdessen von an Presslufthämmer erinnernden Beats und von einer computerverzerrten Stimme. Unter diesem Eindruck hat der Vorstand beschlossen, eine solche Empfehlung ins Leben zu rufen. Ich durfte das Konzept dafür entwickeln. Es gab dann sehr bald auch einen Fachausschuss, mit dem wir gemeinsam Ideen entwickelt haben. 1995 haben wir begonnen, schon 1996 konnten wir die erste Ausschreibung bekanntmachen mit dem Aufruf an Hersteller, Produzenten von Musikkassetten und CDs, Produkte einzusenden, die sich für Kinder besonders eignen. 1997 hatten wir die erste Preisverleihung. Seither ist das Ganze immer weiter gewachsen. Es kamen relativ bald die DVDs hinzu. Musikkassetten verloren zunehmend an Bedeutung, wobei sie noch recht lang im Kinderzimmer zu finden waren. In den letzten Jahren haben wir natürlich auch den digitalen Markt in den Blick genommen, nicht weil wir denken, dass kleine Kinder besonders früh an den Computer herangeführt werden sollten, sondern weil die Lebensrealität oft so ist, dass sie über Musik-Apps und Internetseiten schon früh damit in Berührung kommen. Da sollte es einen Wegweiser geben zu empfehlenswerten Produkten.
nmz: In diesem Bereich gibt es derzeit noch Luft nach oben, wie es aussieht…
Rossel: Es wird sich zeigen, was uns die nächsten Jahre bringen. Ich denke, wenn der LEOPOLD weiterhin eine Berechtigung haben will, darf er nicht stehenbleiben. Wir haben gerade in den beiden Jahren der Pandemie gesehen, dass Kinder noch viel mehr Zeit am Computer verbringen als zuvor. Da ist es schön, wenn man zumindest auf musikalischem Gebiet einen Hinweis geben kann.
nmz: Was hat dir an diesem Herzensprojekt besonders viel Spaß gemacht?
Rossel: Das war die Begegnung mit den Produzentinnen und Produzenten. Ich habe gemerkt, dass es nicht nur die großen Verlagshäuser sind, wobei gerade dieser Sektor Kindermusik häufig auch dort von Menschen betreut wird, denen es ein besonderes Anliegen ist, Kinder musikalisch auf gute Weise zu unterstützen.
Aber ich habe gesehen, wie einzelne Produzentinnen und Produzenten das quasi aus ihrem privaten Etat gestemmt und dabei nie darauf geschaut haben, wie viel sie damit verdienen. Wichtig war es vor allem, etwas Tolles zu schaffen. Das Produkt musste ihren oft sehr hohen Ansprüchen genügen. Und es hat mich besonders berührt zu sehen, dass gerade solche Preisträger sehr dankbar für diese Auszeichnung waren, weil sie sagten: Das zeigt uns, dass wir trotz aller Mühen und aller finanziellen Schwierigkeiten auf dem richtigen Weg sind. Diese Begegnungen werde ich ganz sicher nie vergessen.