Die Deutsche Streicherphilharmonie (DSP) feiert in diesem Jahr ihr 40. Jubiläum. 1973 wurde das Orchester als Deutsches Musikschulorchester (DMO) anlässlich der „X. Weltfestspiele der Jugend und Studenten 1973“ in (damals: Ost-) Berlin gegründet. Bald gab es erste Aufnahmen und Produktionen im Rundfunk, das Ensemble wurde in Rundfunk-Musikschulorchester (RMO) umgetauft und konzertierte bald auch international. Am Pult folgten dem 1975 verstorbenen Helmut Koch zunächst Herbert Kegel (1974), dann Wolf-Dieter Hauschild (1976) und Winfried Müller als Orchesterleiter. Im Jahre 1984 konnte – im Wechsel mit Max Pommer (1986/87) – der Chefdirigent der Dresdner Philharmonie, Jörg-Peter Weigle, als ständiger Dirigent gewonnen werden. Er prägte bis 1995 die künstlerische Entwicklung des Orchesters. Von 1995 bis 2002 war Hanns-Martin Schneidt künstlerischer Leiter des Ensembles. Auf ihn folgte 2003 Michael Sanderling, der 2013 nach zehnjähriger Tätigkeit den Dirigentenstab an Wolfgang Hentrich übergibt.
Von Beginn an begleiten Mitglieder des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin (RSB), Patenorchester der Deutschen Streicherphilharmonie, die musikalische Arbeit des Orchesters als Dozenten für die einzelnen Stimmgruppen. 1991 übernahm der Verband deutscher Musikschulen das nunmehr bundesweit aktive Orchester in seine Trägerschaft. Seitdem konzertiert es als „Deutschlands jüngstes Spitzenorchester“ in Deutschland und der Welt. Im August steht eine Konzertreise nach Ecuador auf dem Programm.
Aus Anlass des Jubiläums führte Antonia Bruhns ein Interview mit dem langjährigen und nun scheidenden Dirigenten Michael Sanderling.
neue musikzeitung: Wie geht es Ihnen, wenn Sie auf das Jahrzehnt mit der Deutschen Streicherphilharmonie zurückblicken?
Michael Sanderling: Wenn ich auf die zehn Jahre zurückblicke, dann sind das ganz wunderbare und glückliche Momente, die ich erlebt habe. Die DSP ist schon eine Art Familie für mich geworden und wird es auch bleiben. Auch wenn ich den schweren Entschluss fassen musste, zugunsten meiner zwei eigenen Kinder die Verantwortung für siebzig andere aufzugeben, wird die Streicherphilharmonie in meinem Herzen immer einen ganz festen Platz behalten.
nmz: Was ist die Herausforderung, ein Orchester wie die Deutsche Streicherphilharmonie zu leiten?
Sanderling: Die Deutsche Streicherphilharmonie ist ein Ensemble, in dem sich junge, 11 bis 19 Jahre alte Musiker treffen, die in den meisten Fällen zum ersten Mal in einem Orchester, in einer Gemeinschaft spielen. Dadurch leitet sich eine große Verantwortung für die Dozenten und für mich als Chefdirigenten ab, denn wir haben die Aufgabe, diese Erfahrung zu einer positiven zu machen, aufzuzeigen, was alles Schönes in einer Gemeinschaft entstehen kann, aber was auch dazu notwendig ist, damit es ein positives Erlebnis wird, nämlich Disziplin, Ehrgeiz, Durchhaltevermögen und auch ein Sinn für den Nachbarn und eine gewisse Fürsorge.
nmz: Wie kam es dazu, dass Sie 2003 Chefdirigent der Deutschen Streicherphilharmonie wurden?
Sanderling: Es war der klassische Fall. Ich war Solist auf einer Tournee mit dem Orchester und der Dirigent wurde am letzten Tag unpässlich. Da bin ich eingesprungen und habe das Konzert sozusagen gerettet und daraus wurde dann die Idee geboren, mich zu fragen, ob ich mir das generell vorstellen könnte. Damals war ich als Dirigent ein absoluter Nobody. Es fiel in die Zeit, wo ich gerade erst begann, mich neben meinem eigentlichen Beruf als Cellist für das Dirigieren zu interessieren. Insofern muss ich dem Schicksal dankbar sein, aber auch meinen damaligen Kollegen des Rundfunkorchesters Berlin, die mich für diese Aufgabe vorgeschlagen haben. Sie waren damals sehr mutig, sie konnten ja nicht wissen, ob das mit mir gutgeht oder nicht. Sie haben bei der Wahl eine Rolle spielen lassen, dass – auch durch meine Unterrichts-tätigkeit – mein Herz für die Jugend schlägt. Und dass es mir ein besonderes Bedürfnis ist, am Ende meines Lebens sagen zu können: Ich habe nicht nur das hundertzwanzigste Dvorak-Cellokonzert in meinem Leben gespielt und mittlerweile kann ich auch sagen, die hundertste 4. Brahms-Symphonie dirigiert, sondern ich habe etwas Wichtigeres hinterlassen, nämlich vielleicht dem ein oder anderen jungen Menschen, egal ob es ein Cellist in meiner Klasse in Frankfurt an der Hochschule ist oder eben jemand, der in der Streicherphilharmonie großgeworden ist, geholfen zu haben, seinen Weg in die Musik zu finden oder zumindest auszubauen. Und mit dieser Einschätzung lagen meine Kollegen nicht ganz falsch.
nmz: Was zeichnet den besonderen Klang der Streicherphilharmonie Ihrer Meinung nach aus?
Sanderling: Die erste Qualität dieses Orchesters ist, dass es nach Orchester klingt. Das ist ein sehr schwer zu erreichender Zustand, weil jeder Spieler auf seinem Instrument sehr gut ausgebildet ist, aber natürlich wenig Erfahrung mitbringt, wie man Homogenität, dieselben Klangfarben erzielt, wie man den Nachbarn erreicht und so weiter. Darin besteht unsere Aufgabe im Dozenten- und Dirigententeam. Dass es nach Orchester klingt, ist auch der Tatsache zu verdanken, dass seit Gründung des Orchesters die Dozenten aus demselben „Stall“ kommen, nämlich aus dem Rundfunksinfonieorchester Berlin, ebenso wie ich selbst. Wir sind alle vom gleichen Klangideal geprägt und können das identisch in die Streicherphilharmonie übertragen.
Das zweite ist noch viel weniger zu unterschätzen. Die DSP ist kein Projektorchester. Wir sind ein Orchester, dessen Mitglieder sich über mehrere, meist sehr viele Jahre im Orchester weiterentwickeln, und das bedeutet, dass in sozialer Hinsicht ein familiäres Verhältnis entsteht. Das trägt sehr dazu bei, eine Homogenität zu erzeugen. Ich glaube, das sind die zwei wesentlichen Gründe, warum die DSP einen unverwechselbaren Klang erzielt, und das, obwohl es in jedem Jahr eine gewisse Fluktuation gibt, weil natürlich die Älteren gehen und Jüngere dazukommen, wie in jedem Jugendorchester. Aber ebenso wie in den guten alten deutschen Traditionsorchestern lässt sich eben trotzdem eine Tradition im Klangbild fortsetzen. Ich glaube, dass wir es über die Jahre geschafft haben, unser Grundideal an Streicherklang immer weiterzuführen.
nmz: Sie haben vorhin bereits den ständigen Wechsel der Mitglieder in einem Jugendorchester angesprochen. Wie problematisch war dieser Umstand für Ihre Arbeit?
Sanderling: Es ist natürlich immer schöner, an etwas festzuhalten, was man sich erarbeitet hat, das ist ja die Krux eines jeden Jugendorchesters: Wenn man denselben Stand erreicht wie im vorhergehenden Jahr, ist das schon ein großer Erfolg, weil es eben teilweise neue Kräfte sind. Das heißt, die Möglichkeit aufzubauen, indem man auf Bewährtes zurückgreift, ist kleiner als bei beim Profiorchester. Dieses Schicksal teilen wir aber mit jedem anderen Jugendorchester. Wir haben im Gegensatz dazu sogar den Vorteil, dass unsere Mitglieder bis zu sechs Jahre in diesem Orchester verbleiben. Dadurch gibt es doch einen Grundstamm, der die dazukommenden neuen Mitglieder des Orchesters relativ schnell in die Besonderheiten unseres Klanges einführt.
nmz: Was braucht ein Dirigent, um ein jugendliches Spitzenensemble wie die Deutsche Streicherphilharmonie zu leiten?
Sanderling: Es bedarf bei einem solchen Orchester immer einer Mischung. Man braucht sicher disziplinäre Strenge. Man muss die Musik etwas mehr erklären, damit deutlich wird, warum wir hart miteinander arbeiten und ringen. Es gehört ein Schluss Humor dazu, um die gute Laune zu behalten. Es gehört ganz sicher dazu, dass man die Hingabe zur Musik vorlebt, dass man zeigt, dass, wenn einem etwas sehr wichtig ist, man bereit ist, auch sehr viel dafür zu opfern. Es gehört Verantwortung für andere dazu. Ich bin als Chefdirigent der DSP nicht nur Musiker, sondern auch ein väterlicher Freund. Wenn ich sehe, da ist jemand gerade mal betrübt oder es hat jemand ein musikalisches, instrumentales oder privates Problem: dann bin ich ansprechbar. Es ist also eine Mischung aus allem und gerade deshalb ist es auch so sehr ein Bestandteil meines Lebens geworden.
nmz: Die DSP absolviert neben drei Hauptprobenphasen im Jahr eine Vielzahl an Konzerten. In einigen Jahren treffen sich die jugendlichen Musiker bis zu zehn Mal, auch während der Schulzeit. Ist das pädagogisch noch sinnvoll?
Sanderling: Als ich 2003 die Streicherphilharmonie übernahm, hatte ich das Gefühl, dass die Auftrittsmöglichkeiten in keinem Verhältnis zu den qualitativen Möglichkeiten des Orchesters standen. Meine Aufgabe bestand eben auch darin, dafür zu sorgen, dass das Orchester mehr und bessere Möglichkeiten hat, zu präsentieren, was es ist und was die musikalische Jugend in Deutschland ist. Das zu erreichen ging natürlich erst mal nur über den Punkt, so viele Angebote wahrzunehmen wie möglich. Ab einem gewissen Standing kann man die Konzerttermine dann auch selber setzen. Das mussten wir uns erst erarbeiten und deswegen gab es eine Zeit, wo die zeitliche Belastung des Orchesters größer war, als wir das auch pädagogisch für sinnvoll erachtet haben. Ich glaube, dass wir das richtig entschieden haben, denn das Orchester hat in den letzten zehn Jahren im Ansehen und damit auch in der Qualität seiner Arbeit deutlich gewonnen.
nmz: Sie haben die Streicherphilharmonie in zahlreichen großen deutschen Konzertsälen dirigiert und waren mit dem Orchester auch mehrmals auf Auslandstournee, unter anderem in Norwegen, China, Malaysia und Montenegro. Gibt es einen Konzertmoment, an den Sie besonders gern zurückdenken?
Sanderling: Jedes Konzert, das ich mit der Streicherphilharmonie gemacht habe, ist ein besonderes Konzert gewesen, weil ich in jedem Konzert das Gefühl hatte, dass für die Mitglieder des Orchesters etwas auf dem Spiel stand. Sie haben gespielt und musiziert, weil ihr inneres Bedürfnis danach lechzte. Und das ist etwas, was man als Dirigent zwar oft, aber nicht immer hat. Wenn ich eine Situation herausstellen soll, dann hat das nichts mit einem speziellen Konzert zu tun, sondern mit einem Stück im Repertoire, und zwar dem 8. Streichquartett in der Großen Orchesterfassung von Schostakowitsch. Ich bin mit etwas Sorge in die Erarbeitung des Stückes gegangen, mit der Frage, ob das nicht 11- bis 19-Jährige inhaltlich überfordern würde. Und heute noch läuft es mir kalt den Rücken runter, mit welcher Eindringlichkeit, mit welchem Verständnis und mit welcher Ergriffenheit dieses Orchester dieses Stück aufgeführt hat. Das werde ich ganz sicher nicht vergessen.
nmz: Seit der Saison 2001/12 sind Sie Chefdirigent der Dresdner Philharmoniker. Kommt Ihnen die langjährige Arbeit mit der DSP jetzt in Dresden zugute?
Sanderling: Natürlich ist es etwas anderes, mit Jugendlichen zu arbeiten, streicherspezifisch arbeiten zu können, das ist ja ein ganz entscheidender Vorteil dieses Orchesters. Da kann ich nur partiell drauf zurückgreifen, weil ich in der Dresdner Philharmonie bestens ausgebildete und versierte Musiker vor mir habe, die diese Sorte streicherspezifisches Umgehen bereits kennen und nicht durch mich initiiert lernen müssen. Ich denke aber, dass ich im Umgang mit Musik, im Umgang mit der Hingabe zur Musik aus der Streicherphilharmonie sehr viel mitgenommen habe. Das versuche ich nun weiterzugeben. Dass Musik jeden Abend etwas sein kann, was nicht nur berührt, sondern wofür es sich lohnt sich zu verausgaben. Das ist für manch ein Orchester, vor allem für die, die bis zu 100 Konzerte in der Saison geben, eine wirkliche Herausforderung.
nmz: Welche Herausforderung sehen Sie für die DSP in der Zukunft?
Sanderling: Ich glaube, dass die äußeren Bedingungen für ein solches Orchester sehr schwer zu entwickeln sind. Es bedarf dazu nämlich des Bewusstseins, dass das eine ganz wesentliche Arbeit ist, die nicht elitär einzustufen ist. Es geht uns nicht ausschließlich um die Förderung der 70 Mitglieder des Orchesters. Es geht vielmehr darum, den jugendlichen Zuhörern aufzuzeigen, was mit Hingabe, was mit Ehrgeiz und was in einer Gemeinschaft zu erreichen ist. In einer Zeit, in der wir uns immer mehr verselbständigen und im negativen Sinne des Wortes personalisieren, ist das ein ganz wesentlicher Punkt. Dafür bedarf es finanzieller und struktureller Mittel, um ein solches Orchester zukunftsfähiger zu machen. Die Ausgaben steigen, aber die Budgets nicht, und ich will die Gelegenheit jetzt nutzen, an alle zu appellieren, dass dies die eigentliche Investition in unsere Zukunft ist: in Jugendorchester und in Jugendarbeit sehr viel mehr als bisher zu investieren! ¢