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Neue Perspektiven auf das Thema Rassismus

Untertitel
Die Musikschule Nürtingen auf dem Weg zu einer diversitätssensiblen Institution
Vorspann / Teaser

In der nmz, Ausgabe 4/23 (S. 26) war – im Nachgang zur Herbsttagung des Landesverbands der Musikschulen Baden-Württemberg – ein Interview mit Andreas Kern und Goska Soluch zu lesen. Beide hatten gemeinsam mit ihrer Kollegin Melanelle B.C. Hémêfa einen Fachtag zum Thema „Rassismussensible Bildungsarbeit an Musikschulen“ durchgeführt.

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Ihren Ansatz erläuterte Andreas Kern so: „Zunächst wird bewusst oder unbewusst eine Gruppe gebildet, die eine Aussage über ein ‚Wir‘ der Gesellschaft macht. Alle in dieser Gruppe müssen dann so oder so aussehen oder sich verhalten. Darüber wird automatisch definiert, wer die ‚Anderen‘ sind. Diese werden als weniger wert oder weniger gut eingestuft und benachteiligt. Solche Strukturen sind häufig historisch gewachsen aber nichtsdestotrotz rassistisch.“ Es geht dabei um den Begriff des „othering“: Menschen zu „den Anderen“ zu machen, auszugrenzen und damit zu diskriminieren. 

Eine Teilnehmerin der Herbsttagung war Sandra Fromme, seit eineinhalb Jahren stellvertretende Leiterin der Musikschule Nürtingen. Im Anschluss an diesen Tag besuchte sie eine Fortbildungsreihe und beschloss gemeinsam mit dem Leiter ihrer Musikschule Albrecht Meincke, das Thema in den derzeit an der Musikschule laufenden Strategieprozess einzubinden. Der Prozess, der unter anderem auch ein Schutzkonzept vorsieht, soll am Ende in ein Leitbild einmünden. 

„Neue Perspektiven auf das Thema Rassismus“ habe sie im Rahmen des Fachtags und der Fortbildung gewonnen, so Sandra Fromme. Diese möchte sie nun in ihr Kollegium weitergeben. Zunächst wurde das Projekt bei den Fachgruppenleiter*innen vorgestellt, anschließend in der Gesamtlehrerkonferenz. Zum Start des Prozesses gab es dann einen Inhouse-Workshop für das Kollegium der Musikschule, der von Goska Soluch online durchgeführt wurde: ein Kick-Off, der nun von einer Arbeitsgruppe weitergeführt wird. Ziel ist es, die Musikschule zu einer diskriminierungs-, rassismus- und diversitätssensiblen Einrichtung zu machen. Insgesamt arbeiten an der Musikschule zirka 60 Mitrbeiter*innen. Neun davon sind derzeit in der AG aktiv, die jederzeit offen für alle ist und ihre Materialien partizipativ veröffentlicht. In einem nächsten Schritt soll die Arbeit der AG öffentlich präsentiert werden; dann sollen auch Eltern und Schüler*innen die Möglichkeit haben, mitzumachen und mitzudenken. 

Das Kollegium erlebe sie als sehr offen, berichtet Sandra Fromme. Natürlich stehen erst einmal die Musik und die Lehrtätigkeit im Mittelpunkt. Viele Kolleg*innen reagieren zunächst mit dem Satz: „Rassismus gibt es bei uns doch nicht.“ Oder: „Wir sind doch offen für alle“. Oder sie verweisen auf die Multinationalität, die sowohl unter den Lehrenden als auch in der Schülerschaft zu finden ist. Das ändert nichts daran, dass es auf der einen Seite die privilegierten Weißen gibt, die nie eine Diskriminierungserfahrung gemacht haben, auf der anderen Seite Menschen, die mit bestimmten Zuschreibungen oder Vorurteilen leben. Das „othering“ entsteht dann ganz automatisch, wenn auch unabsichtlich. Es geht dabei nicht darum, Menschen aufgrund ihres Verhaltens anzuklagen, erklärt Fromme und fügt erklärend hinzu: „Wir sind alle in unseren Strukturen aufgewachsen“. Gerade deshalb ist die Entwicklung von Rassismussensibilität so wichtig. In der AG der Musikschule, die ein „sicherer Ort“ sein soll, haben Teilnehmende durchaus schon von Erfahrungen mit Diskriminierung berichtet. 

Wie sieht der Prozess nun konkret aus? Verschiedene Komponenten sollen hier überprüft werden: Wie divers ist unser Personal, wie divers unser Publikum und unser Programm? Wie ist unsere Öffentlichkeitsarbeit? Wie kommunizieren wir? Wie barrierefrei sind wir? Wie diskriminierungsfrei ist unsere Pädagogik? Und: Warum haben wir eigentlich keine Instrumente in unserem Programm, die aus anderen Kulturkreisen kommen? „Wir haben in der Stadtgesellschaft bisher nicht gefragt: Ist der Bedarf da?“, sagt Fromme. Manche Dinge kann man schnell realisieren, andere brauchen Zeit für die Umsetzung. Im Rahmen eines pädagogischen Tages im Mai 2024 werden Rassismus- und Diversitätssensibilität dann das zentrale Thema sein. 

Um die Mitarbeiter*innen der Musikschule für das Thema zu sensibilisieren, gibt es ganz praktische Instrumente, zum Beispiel den „Privilegien-Check“, der vor Augen führt, wie privilegiert jeder und jede einzelne wirklich ist. Wer bei Aussagen wie „Ich wurde noch nie gefragt, woher ich komme“ oder „Ich wurde noch nie (aufgrund meines Aussehens) von der Polizei angehalten“ für sich einen Haken machen kann, begreift schnell, dass es eben doch Unterschiede, vielleicht unterschwellige rassistische Verhaltensweisen gibt, die so tief sitzen, dass sie gar nicht bewusst wahrgenommen werden. Ein anderes Instrument ist das „Diskriminierungsrad“, das aufzeigt, wie viele Arten von Diskriminierung es gibt. Fromme jedenfalls ist zuversichtlich, dass das Ziel, ihre Musikschule grundlegend zu verändern und für das Thema zu sensibilisieren, erreicht werden kann. 

Die Musikschule Nürtingen ist dabei eine der sehr wenigen Schulen, die sich in diesem Bereich schon auf den Weg gemacht haben. Rat geholt hat sie sich in der Musikschule Bochum, die hier wirklich Vorreiter war und ist. Ein Netzwerk untereinander ist angedacht, das natürlich wachsen und das Thema dann auch vertieft in den Verband tragen soll.

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