Die Zahlen sind protzig und passen zu den Superlativen, die das Programm der Kulturhauptstadt Essen für 2010 bestimmen: Fast 31.300 Kinder, das sind rund 73 Prozent aller Erstklässler im Ruhrgebiet, können im nächsten Schuljahr neu am Programm „Jedem Kind ein Instrument“ (JeKi) teilnehmen, das heißt, ein Instrument ihrer Wahl spielen (Kunst und Kultur berichtete mehrfach).
Derzeit nehmen bereits 26.000 Kinder an JeKi teil. Nach den Sommerferien können zu den bisher 370 beteiligten Grundschulen in 41 Kommunen im Revier etwa 200 weitere in das Programm aufgenommen werden. Ziel der Geldgeber (insgesamt kommen 50 Millionen von der Stiftung „Bildung“ in der GLS Treuhand, der Kulturstiftung des Bundes, Privatspendern, Kommunen und Land) ist es, dass im Kulturhauptstadtjahr jeder Erstklässler an dem Programm teilnimmt. Eine eigene Stiftung samt Büro sorgt auch für die regelmäßige Veröffentlichung euphorisierender Zahlen.
Vom Schuljahr 2008/2009 an setzen 49 Musikschulen gemeinsam mit den Schulen das Angebot vor Ort um. Das Projekt läuft zusätzlich zum Musikunterricht, im ersten Jahr ist die Teilnahme kostenlos, im zweiten Schuljahr sind 20, ab dem dritten sind 35 Euro fällig, Hartz-IV-Empfänger sind befreit. Höhepunkt der musikpädagogisch umstrittenen Anstrengungen soll 2010 ein Riesenorchester mit mindestens 200.000 Kids an den unterschiedlichsten Instrumenten sein, das eine Art von „Konzert“ geben wird, für das hauptsächlich geübt wird. Kritiker fürchten, dass dieses Event die privaten Geldgeber mobilisiert, da Zahlengigantismus ein wesentliches Merkmal des gesamten 2010-Programms ist, wie die „FAZ“ befand: „An Superlativen fehlt es nicht, geht es doch mehr um Außendarstellung als um Inhalte.“ Was zunächst verlockend klingt – Kinder aller Milieus gratis mit Musikinstrumenten auszustatten – stößt bei Fachleuten auf Skepsis.
Musikpädagogische Innovation kann beispielsweise Ulrich Heß, Landesfachgruppenvorsitzender Musik bei ver.di NRW, nicht entdecken: „Jedes Kind hat schon ein Instrument – seine Stimme, warum wird also nicht gesungen? Das Singen findet seit mindestens zwei Generationen in den Schulen und im Kindergarten, erst recht im Elternhaus, so gut wie nicht mehr statt. Das Instrumentalspiel ist eigentlich der zweite Schritt zum Musizieren, nämlich nachdem die Tonvorstellung durch das Singen im Kopf entstanden ist. Warum also den zweiten vor dem ersten Schritt tun? Und wenn das alles so gut durchführbar ist, warum wurde es von den Schulmusikern nie durchgeführt, obwohl in allen Lehrplänen der allgemeinbildenden Schulen steht, dass dem praktischen Musizieren breiter Raum gewidmet werden soll?“
Heß sieht ein zusätzliches Problem, das hinter der Zahleneuphorie verschwindet: „Die Musikschullehrer, die hochqualifizierte Instrumentalisten sind, aber keine spezifische Ausbildung für den Klassenunterricht haben, sollen nun den Musikunterricht an den Schulen mit Dumpinglöhnen substituieren. Sie verdienen deutlich weniger als die Lehrer im Landesdienst. Unter ihnen gibt es erhebliche Widerstände gegen JeKi wegen der Andersartigkeit der Anforderungen, dem Qualitätsverlust in ihrer Tätigkeit und den ungelösten rechtlichen Problemen. Lehrkräfte werden teilweise gezwungen, im JeKi-Bereich zu unterrichten.“
Volker Gerland, Musikschulleiter in Dortmund und Vorsitzender des Landesverbandes der Musikschulen, ist dennoch optimistisch: „Der Landesverband sieht die bisher größte Chance, dass endlich alle Kinder von den positiven Erfahrungen und Wirkungen des Musizierens profitieren können. Das passt also genau zur Zielsetzung der Musikschulen, deshalb arbeiten wir auch mit ganzer Kraft daran, JeKi zum Erfolg zu verhelfen.“
Jetzt komme es aber darauf an, dass die „Stiftung auf die Erfahrungen hört und reagiert, die vor Ort gemacht werden, sonst besteht ein hohes Risiko, dass dieses hochlöbliche Projekt scheitert, mit allen schlimmen Konsequenzen für die Kinder, aber auch mit unabsehbar großem Schaden für die Musikschulen. Die Struktur der Stiftung sieht bisher weder eine Einflussnahme der beteiligten Kommunen mit ihren Musikschulen, noch den Einbezug des Sachverstands des Landesverbands der Musikschulen auf maßgeblicher Ebene vor. Wenn das so bleibt, verliert die Steuerung des Projekts die Bodenhaftung.“
Musikschullehrer, die JeKi musik- und sozialpädagogisch durchaus sinnvoll finden, bemängeln die schleichende Privatisierung, die damit einhergeht: Jede JeKi-Stunde eines festangestellten Musikschullehrers, die aus dem Stiftungstopf finanziert wird, kostet den Schulträger nur einen Bruchteil aus seinem Etat. Deshalb wird vereinzelt versucht, möglichst viele Planstunden der Festangestellten nach JeKi auszulagern.
Das Land hat die Weiterführung des Projekts nach 2010 in Aussicht gestellt. Heike Stumpf, Bildungsreferentin im Landesmusikrat, ist zuversichtlich: „Der Wille auf Landesseite ist auf jeden Fall da. Und das Land hat noch einmal klargestellt, dass JeKi kein Ersatz für den normalen Musikunterricht sein soll.“ Dabei ist weder sicher, dass die Bundeskulturstiftung nach 2010 dauerhaft zur Finanzierung beiträgt, noch kann man mit Privatspendern rechnen, wenn der Reiz der Kulturhauptstadt vorüber ist. Volker Gerland: „Die Abhängigkeit von privaten Geldgebern kann beim derzeitigen Wirtschaftsklima jetzt, aber auch nach 2010 ein Problem sein. Viele Musikschulen ächzen derzeitig unter der Last, jährlich wachsende, zum Teil sechsstellige Summen als Sponsoring akquirieren zu müssen. Es ist noch unklar, inwieweit das überall gelingen wird. Das Projekt muss unbedingt ein nachhaltiges Programm für ganz NRW werden, wie es ja auch die Landesregierung plant.“ Für Ulrich Heß stellt sich die Frage, „ob die Kinder nach JeKi in der Musikschule weitermachen können, wer das bezahlt und ob genügend Platz und Lehrkräfte vorhanden sind“. In der Tat: Wenn Tausende Schüler sich für die Fortsetzung der Unterrichts anmelden sollten: Wann und wo sollen diese Massen unterrichtet werden? Wer es sich leisten kann, wird Privatunterricht nehmen – und dann sind wir wieder da, wo wir vorher waren.
Wie ein wirklich nachhaltiges Projekt aussehen kann, hat ausgerechnet der als Essener Philharmonie-Intendant abservierte und inzwischen mit einer Ehrenerklärung rehabilitierte Michael Kaufmann gezeigt: Die Philharmonie wurde gerade für ihr Schulprojekt „ReSonanz & AkzepTanz“ mit dem „Preis Soziale Stadt“ ausgezeichnet. Das Projekt, bereits 2007 zweimal prämiert, wurde von der Philharmonie initiiert und in Zusammenarbeit mit dem Orff-Institut der Universität Mozarteum Salzburg unter Leitung von Professor Klaus Feßmann realisiert. Dozenten und Studierende bringen regelmäßig Tanz, Bewegung und Musik in den Unterricht zweier Grundschulen in Essen-Katernberg, einem Stadtteil mit großen sozialen Problemen. Die Grundschüler werden auf spielerische Weise dabei unterstützt, ihr Körpergefühl und ihr Selbstbewusstsein durch Musik und Spiel, Tanz und Bewegung aufzubauen und ihre Probleme und Ängste emotional zu bewältigen. Ihre Konzentrationsfähigkeit ist gestiegen, ihre Aggressivität hat abgenommen. Konzertbesuche in der Philharmonie, die Gründung eines Schulchores, Blockflötenunterricht sowie Aufführungen von Kinderopern in der Schulturnhalle ergänzen das erfolgreiche Projekt – ganz ohne Kulturhauptstadtevents.