Trotz aller Kritik am Abbau der kulturellen Bildungsangebote in Deutschland, besonders im Musikschulbereich, haben unsere Kinder und Jugendlichen im Vergleich zu denen in anderen Ländern gute Chancen, sich musikalisch zu entwickeln. Ein musikalisches Bildungssystem sorgt in den letzten Jahren jedoch für Aufsehen: El Sistema in Venezuela.
Zwei Revolutionen spielen sich derzeit ab in Venezuela: Die bekannte bolivarische der Regierung, die mitunter ziemlich polternd daherkommt und einen „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ verspricht. Und daneben und schon viel länger gibt es noch eine andere, die bisweilen eine „leise soziale Revolution“ genannt wird, und sie verspricht – Musik. Beide haben ihren Protagonisten.
Der Protagonist der lauten Revolution ist Präsident Hugo Chávez, ein Linkspopulist, der seine Reden ans Volk in den höchstens 140 Anschlägen einer Kurzmeldung des sozialen Netzwerks Twitter unterbringen kann (über drei Millionen so genannte Follower haben diese Häppchen abonniert). Er kann aber auch fünf Stunden lang und länger live im Fernsehen und Radio vor sich hin plaudern, und manchmal singt er dabei auch, meistens ein bisschen falsch. Das kulturelle Gegenstück des von ihm bei solcher Gelegenheit bevorzugten Liedguts kann man in Deutschland am ehesten zu fortgeschrittener Stunde in Bierzelten vernehmen. Carlos Fuentes, der kürzlich verstorbene mexikanische Literat, hat Chávez einmal einen „tropischen Mussolini“ genannt.
Orchesterkultur als leise Revolution
Der Protagonist der leisen Revolution heißt José Antonio Abreu, ein 72-jähriger hagerer Mann mit dicker Brille und wenigen Haaren, der sich, weil es ihn ständig friert, selbst im tropischen Venezuela immer in einen Wintermantel hüllt und der sich beim Treppensteigen helfen lässt.
Er wirkt ein bisschen wie ein existenzialistischer Intellektueller aus den 1960er-Jahren und man kann ihn sich gut vorstellen zusammen mit Jean-Paul Sartre am kleinen Tisch eines verrauchten Pariser Cafés. Abreu hat 1975 das gegründet, was heute in Venezuela als „El Sistema“ bekannt ist: Das System. Der Name wirkt kalt und hört sich ein bisschen nach realsozialistischer Planwirtschaft an. Ausgeschrieben heißt er: „Fundación del Estado para el Sistema Nacional de las Orquestras Juveniles e Infantiles de Venezuela“ – Staatsstiftung für das nationale System von Jugend- und Kinderorchestern in Venezuela. Diese von José Abreu geschaffene Stiftung betreibt heute 285 Musikschulen in Armenvierteln und betreut dort 350.000 Kinder und Jugendliche mit 5.620 fest angestellten Musiklehrern und Verwaltungsleuten.
Nach einer Legende hat Abreu die ersten elf Jugendlichen auf einem Parkplatz in der Hauptstadt Caracas aufgelesen, ihnen Musikinstrumente in die Hände gedrückt und gesagt: „Mit diesen Instrumenten werden wir die Welt verändern.“ Inzwischen hat „El Sistema“ Musiker hervorgebracht, die in New York, London oder Mailand verpflichtet werden, und der ganz große Star heißt Gustavo Dudamel, der im Alter von 27 Jahren zum Chefdirigenten der Philharmonie von Los Angeles berufen wurde und heute, 31-jährig, diesen Posten noch immer innehat.
War dies das Ziel von Abreu? Dass ein paar seiner Schüler den ganz gro-ßen Sprung schaffen in die gutbürgerliche Existenz der großen Bühnen und alle anderen arm bleiben, aber von diesem Sprung träumen dürfen in den paar Jahren kostenlosen Musikunterrichts mit geliehenen Instrumenten? Schließlich ist klassische Musik gerade in Lateinamerika die Angelegenheit einer kleinen großbürgerlichen Elite und das Ziel der Staatsstiftung ist es, „erstklassige menschliche Ressourcen auf dem Gebiet der Musik“ hervorzubringen.
Oder hat sich Abreu ganz im Sinne Ernst Blochs im Zimmer der großbürgerlichen Erbtante schon einmal umgesehen, was es denn zu erben gebe, und dabei erkannt, dass es sich bei klassischer Musik um ein Schatzkästlein handelt, in dem die bessere Zeit in der Zukunft schon heute eingeschlossen ist? Abreu würde das für sich in Anspruch nehmen und er sagt es sogar so, wie es auch Bloch hätte sagen können: „El Sistema ist eine Utopie mit der ganzen Schönheit und Energie, die eine Utopie ausstrahlen kann. Musik ist nicht nur ein künstlerischer Ausdruck, sie ist ein globales Konzept der kosmischen Harmonie.“
Spielort: Armenviertel
Der garstige Graben zwischen Armut und Reichtum liegt dieser Harmonie im Weg. Klassische Musik gehörte vor „El Sistema“ in Venezuela ganz allein der reichen Welt. Abreu brachte sie in die Elendsviertel. Dorthin, wo die Häuser improvisiert zusammengenagelt werden, wo es schlammig ist und stinkt, wo die Familien mit Gelegenheitsjobs von der Hand in den Mund leben, wo Mord und Totschlag zum Alltag gehören und wo sich die Kinder vor all dem Elend massenhaft in die einschläfernden und gehirntötenden Ausdünstungen von Schusterleim in einer Plastiktüte flüchten.
Solchen Kindern bietet „El Sistema“ heute kostenlosen Musikunterricht samt Instrumenten an. Nicht im hergebrachten großbürgerlichen Sinn mit einem Kind und seinem Privatlehrer. Gelernt wird immer in der Gruppe, und das Ziel ist immer der Chor oder das Orchester und der gemeinsame öffentliche Auftritt.
Wird aus der Orchesterkultur eine politische Kultur?
Die Musikschulen haben mehr Zulauf als Sportvereine, die Kinder und Jugendlichen sind mit Leidenschaft dabei und das, obwohl das Erlernen eines Musikinstruments Disziplin lehrt und erfordert. Leidenschaft und Disziplin aber, und das auch noch eingebettet in ein Kollektiv, das sind klassische revolutionäre Tugenden. Früher sagte man das so: Ein Revolutionär müsse ein heißes Herz haben und einen kühlen Verstand.
Diese Keimzellen aus Disziplin und Leidenschaft strahlen aus: Auf die Familien, weil es etwas anderes ist, wenn ein Kind zu Hause Geige oder Trompete übt und nicht auf der Straße herumhängt und sich den Kopf mit Drogen zudröhnt oder gar mit solchen handelt. Sie strahlen aus aufs Stadtviertel, weil sich die Eltern treffen bei den Konzerten der Kinder, sich kennenlernen, miteinander reden, gemeinsam stolz sind auf den Nachwuchs.
Es entsteht etwas, das dringend nötig ist zum menschenwürdigen Überleben in einem Armenviertel: Es entsteht ein soziales Gefüge. Hugo Chávez hat die sozialrevolutionäre Kraft von „El Sistema“ erkannt und versucht, es für sich zu vereinnahmen. Er fördert die Schulen mit 160 Millionen US-Dollar im Jahr, hat ihr Netzwerk in „Musikalische Stiftung Simón Bolívar“ umbenannt und dem Ministerium für Volksmacht angegliedert. Dort ist es umgeben von der bolivarischen Sozialpolitik, die mit Leidenschaft und Disziplin oder gar mit Engagement für eine gemeinsame eigene Sache herzlich wenig zu tun hat.
Chávez ist das, was man in der spanischsprachigen Welt einen Caudillo nennt: Ein selbstherrlicher Staatschef, der sich unter Umgehung aller Institutionen direkt ans Volk wendet, dort nach Gutdünken Wohltaten verteilt und im Gegenzug erwartet, dass das Volk ihn liebt und legitimiert, und bislang hat das auch ganz gut funktioniert. Er kauft kubanische Ärzte gegen Erdöl ein und schickt sie in Elendsviertel, die vorher nie ein Mediziner betreten hat. Er betreibt Supermärkte mit billigem Hühnerfleisch für die Armen und verschenkt hier und da einmal ein neues Häuschen.
Alles purer Assistenzialismus und alles ohne eigenes Zutun der Begünstigten, nur weil es dem Caudillo gefällt. Und die Kinder bekommen Musikunterricht gratis. Der Caudillo will nur geliebt und wieder und wieder gewählt werden. Wird „El Sistema“ vom System Hugo Chávez verschluckt?
Abreu hat sich zum Ziel gesetzt, mit seinen Musikschulen eine Million Kinder und Jugendliche zu erreichen. Dafür braucht er das Geld von Chávez, und er nimmt es gerne. Er vertraut auf die Schönheit und Energie der Musik. Und darauf, dass mit und durch sie eine neue Generation heranwächst mit ihrer ganz eigenen Utopie, die weit über das hinausreicht, was ein Caudillo mit seinem „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ versprechen kann.
Unser Autor ist Lateinamerika-Korrespondent