Die musikalische Bildung, ob an allgemein bildenden Schulen, an Musikschulen oder im Bereich der Privatmusikerzieher befindet sich in einer tiefen Krise. Ob sie überhaupt eine Chance hat, zu überleben, ist derzeit ungewiss. Die Bestandsaufnahme zeichnet ein eher düsteres Bild: 50 bis 80 Prozent des Musikunterrichts an Grundschulen fallen aus oder der Unterricht wird fachfremd erteilt, er wird sogar mit ausdrücklicher Billigung von Bildungspolitikern aus den Stundenplänen gestrichen wie etwa in Berlin. Dort sollen die Schüler künftig an den neu eingerichteten Sekundarschulen zwischen Kunst und Musik wählen. Ab der 11. Klasse wird am Gymnasium überhaupt kein Musikunterricht mehr stattfinden.
An einer Stundenstreichung beteiligt sich auch die KMK mit ihrer Empfehlung, die Fächer Musik, Kunst und Sport zum Fach „ästhetische Bildung“ zusammenzulegen – mit einem Gesamtstundenumfang, den vorher jedes einzelne Fach für sich beanspruchen konnte. Begründet wird dies mit einem andauernden Lehrermangel. Würde die KMK mit der Begründung „Lehrermangel“ auch Fächer wie Deutsch oder Mathematik mit anderen Fächern zusammenlegen oder ganz abschaffen? Darüber hinaus werden Musikstunden häufig für andere schulische Zwecke genutzt. Unterrichtsstunden an Musikschulen werden kontingentiert beziehungsweise durch Aufnahmestopps reduziert, sofern die Musikschulen nicht gleich ganz abgewickelt werden. Das alles geschieht bei gleichzeitiger Verkürzung der Schulzeit (G 8) und der Ausweitung von Ganztagsschulen, die es in ihrer derzeitigen Konzeption den Kindern weder zeitlich, noch kräftemäßig, noch von der Ausstattung her (keine Übungsräume) ermöglichen, ein Instrument zu erlernen.
Gleichzeitig wird das Land mit einer Flut musikalischer Projekte und Initiativen überzogen (zum Beispiel Jekiss, Jeki, Klassenmusizieren, Instrumentenkarussell, Educationprojekte verschiedener Orchester, „musikalische Grundschule“ der Bertelsmann-Stiftung). Die meisten davon finden in Kooperationen zwischen Musikschulen und allgemein bildenden Schulen statt. Welchen Zweck diese Projekte insgesamt verfolgen, bleibt unklar, denn während auf der einen Seite radikal der Musikunterricht abgebaut wird, wird auf der anderen Seite – teils sogar in denselben Regionen – eine „Grundmusikalisierung“ angestrebt. Diese Entwicklung ist aus bildungspolitischer Perspektive mehr als befremdlich, denn offenbar wird musikalische Bildung als wichtig und unwichtig zugleich betrachtet. Dabei scheint außerdem unter „musikalischer Bildung“ jeder etwas anderes zu verstehen und Quantität oftmals eine größere Rolle als Qualität zu spielen.
Zunehmend halten die viel beschworenen „Transfereffekte“ als Begründung für das Veranstalten von Musikunterricht her. Dies mag eine bildungspolitische Leitidee sein, jedoch nicht, ohne dass hinterfragt wird, ob und unter welchen Bedingungen sich diese Effekte überhaupt einstellen (in höchstens ein- bis zweimal 45-minütigem Unterricht pro Woche?). Fraglich ist auch, ob eine Marginalisierung des eigentlichen Musiklernens durch erhoffte Transfereffekte unter den Begriff „musikalische Bildung“ zu fassen ist.
Wo auch immer Musikunterricht reduziert oder abgewickelt wird, erhebt sich ein Aufschrei der Betroffenen: der Eltern, der Schüler, der Instrumentalpädagogen, der Schulmusiker und – wie kürzlich in Berlin – auch namhafter Orchester, Dirigenten und Künstler. Wie aber kommt es überhaupt dazu, dass Musik von so vielen Entscheidungsträgern als überflüssig angesehen und der Musikunterricht somit zur Streichung freigegeben wird? Warum folgt politischen Sonntagsreden allzu häufig gegenteiliges Montagshandeln? Haben die Entscheidungsträger selbst keinen Bezug zur Musik oder haben sie selbst in ihrem schulischen Musikunterricht so negative Erfahrungen gemacht, dass sie der Streichung so offenbar leichten Herzens zustimmen?
Was in diesem Land fehlt, ist eine bildungspolitische Diskussion darüber, was für eine musikalische Bildung wir wollen, und damit untrennbar verbunden ist die Frage, was für eine Gesellschaft wir wollen. Welche Ziele werden aus welchen Gründen derzeit mit einem musikalischen Bildungsauftrag verfolgt? Werden gesamtgesellschaftliche Ziele (kulturelle Teilhabe für alle), allgemein pädagogische (Sozialverhalten), psychologische (Persönlichkeitsentwicklung/Lebensbewältigung), Schlüsselkompetenzen (Kreativität) oder musikalische Ziele (Erwerb von musikalischen Kenntnissen und Fertigkeiten/musikalische Expertise) verfolgt?
Lassen sich all diese Ziele, die dem Musikunterricht momentan aufgebürdet werden, überhaupt alle gemeinsam verfolgen oder tut nicht eine Besinnung auf einzelne Ziele Not? Welche Kompetenzen, Kenntnisse und Fertigkeiten brauchen Kinder, um zu mündigen Mitgliedern einer demokratischen Gesellschaft heranzuwachsen (falls dies noch das Ziel von Bildung ist) und auch als Erwachsene ein psychisch und physisch gesundes Leben zu führen, und was kann welche Art von Musikunterricht dazu beitragen?
Die Auseinandersetzung mit diesen Fragen ist allerdings wesentlich aufwändiger als die vorschnelle Antwort „nichts“ und die damit verbundene Lösung, einen kontinuierlichen Musikunterricht zugunsten von PISA-Fächern kurzerhand zu streichen oder durch finanziell oft nur kurzfristig gesicherte Projekte zu ersetzen. Brauchen Schüler Musiktheorie? Sollten sie wissen, wer Beethoven war? Soll der Musikunterricht der Bewahrung des „kulturellen Erbes“ (wie die aktuell zur Landtagswahl in NRW geplante Initiative zur Rettung des deutschen Volksliedes durch Jürgen Rüttgers) oder der Integration (wie von der Liz-Mohn-Stifung gefördert) dienen? Soll ein ursprünglich durch professionell ausgebildete Lehrkräfte erteilter Musikunterricht nach und nach durch ehrenamtliches bürgerliches Engagement (zum Beispiel Singpaten) oder jeglicher qualitativen staatlichen Kontrolle entzogene private Angebote ersetzt werden? Sollen Kooperationen zwischen Musikschulen und allgemein bildenden Schulen den schulischen Musikunterricht ersetzen? Kurzum: Was eigentlich sind die Ziele staatlicher musikalischer Bildung, woraus werden sie abgeleitet und wie sollen sie umgesetzt werden?
Und vor allem: Was bedeutet der Wegfall musikalischer Bildung, der Wegfall sinnlich-ästhetischer Erfahrungen für den Einzelnen und für die Gesellschaft? Wie und wo soll die Entwicklung „kultureller Teilhabe“, die die Legitimation von Musikunterricht darstellt, vor dem Hintergrund verkürzter Schulzeit und der Streichung von Musikunterricht, flankiert von einer stetig andauernden Abwicklung kultureller Einrichtungen überhaupt noch stattfinden? Wie wird es sich auf die Persönlichkeit von Kindern auswirken, wenn sie täglich acht Stunden ausschließlich durch die sogenannten „harten“ PISA-Fächer nahezu rein kognitiv beansprucht werden?
Diese Fragen werden offenbar nicht dort diskutiert, wo die Entscheidungen fallen, nämlich in der Bildungspolitik. Sie werden jedoch auch nicht von denjenigen diskutiert, die gegen die Streichung des Musikunterrichts protestieren und die sich meist auf eine Verteidigung des Bestehenden zurückziehen. Was fehlt, ist ein großer bildungspolitischer Wurf zur institutionalisierten musikalischen Bildung, eine Konzeption, die eine umfassende und langfristige Perspektive bietet. Der zunehmende Verteilungskampf zwischen einzelnen Interessengruppen um die immer geringer werdenden Anteile staatlich finanzierten Musikunterrichts und das daraus resultierende Miteinander-Konkurrieren einzelner Projekte können dazu nichts beitragen. Erfolgt keine musikpolitische Zielbestimmung einschließlich einer Festlegung der zu den Zielen führenden Wege, wird das Fach Musik wohl in absehbarer Zeit – genau wie die Musikschulen und andere kulturelle Einrichtungen – aus der Bildungslandschaft ersatzlos verschwunden sein. Die Bildungspolitik erhebt den Anspruch, die Schule solle vom „Lernort“ zum „Lebensort“ werden – aber was für ein Lebensort ist das, der keinerlei sinnlich-ästhetische Erfahrungen ermöglicht?
Es ist nicht zu erwarten, dass die Politik in absehbarer Zeit damit beginnt, Antworten auf all diese Fragen zu suchen. Richtungsweisend könnte es aber sein, wenn wir selbst – Musikpädagogen, Orchestermusiker, musikalische Laien und alle, die am kulturellen Leben in diesem Land interessiert sind – anfingen, uns einzumischen, über Ziele und Wege der musikalischen Bildung zu diskutieren und mitzubestimmen statt uns als großartige „Neuerungen“ und als „alternativlos“ präsentierte Projekte und Methoden unhinterfragt überstülpen zu lassen.