Im Sommer 2022 sprach das Bundessozialgericht (BSG) ein wegweisendes Urteil, das die Situation von freischaffenden Lehrkräften an Musikschulen – sogenannten Honorarkräften – betrifft. Das Gericht stellte fest, dass mangels unternehmerischer Freiheit eine echte Selbstständigkeit an einer Musikschule kaum herzustellen sei. Obwohl es sich um eine Einzelfallentscheidung handelte, fand das Urteil bundesweit Beachtung.
Nach „Herrenberg-Urteil“:
Von Laura Oetzel und Daniel Mattelé
Sankt Augustin verzichtet zukünftig auf Honorarkräfte
Nun gibt es erste Musikschulen, die der Argumentation des BSG folgen und in Zukunft auf Honorarkräfte verzichten wollen: Die Stadt Sankt Augustin (zwischen Köln und Bonn gelegen) plant, ab August 2024 nur noch Lehrkräfte in Festanstellung zu beschäftigen. Im Antrag an den Kulturausschuss heißt es: „Nach dem Urteil des Bundessozialgerichtes (BSG) vom 28.06.2022 zur Frage der freiberuflichen Unterrichtstätigkeit von Musikschullehrkräften ist zukünftig deren rechtssichere Beschäftigung grds. nur im Rahmen einer Festanstellung möglich. Dies wurde durch eine Fachanwaltskanzlei bekräftigt, da es in einer kommunalen Musikschule unrealistisch sei, den Lehrenden unternehmerische Chancen im Sinne des BSG einzuräumen.“
Der Bürgermeister der Stadt Sankt Augustin, Dr. Max Leitterstorf (CDU), erklärt den Schritt so: „Unsere städtische Musikschule ist eine wichtige Institution, die Menschen mit unterschiedlichsten Hintergründen miteinander verbindet und mit einem breit gefächerten Angebot alle Altersgruppen im Stadtzentrum und den verschiedenen Stadtteilen anspricht. Die Lehrkräfte ermöglichen ein pädagogisch fundiertes Unterrichtsangebot zur musikalischen Bildung und Ausbildung für über 1800 Schülerinnen und Schüler. Schon einige Zeit gab es eine Diskussion darum, dass die Lehrkräfte nicht als Honorarkräfte, sondern sozialversicherungspflichtig beschäftigt werden sollten. Einerseits gibt es durch ein Urteil des Bundessozialgerichts eine veränderte Rechtslage, andererseits ist es mir aber auch ein persönliches Anliegen, den Lehrkräften, die die wertvolle Arbeit unserer Musikschule ermöglichen, mit einer Festanstellung solide Perspektiven zu bieten. Auch wenn mit dieser Entscheidung eine Gebührenerhöhung erforderlich ist freue ich mich, dass der Kulturausschuss des Stadtrates meinem Vorschlag bereits gefolgt ist und wir nun die weiteren Schritte auf diesem Weg gehen können.“
Die Beschäftigung von Lehrkräften in Festanstellung anstelle von Honorarverträgen kostet deutlich mehr Geld. Die Stadt Sankt Augustin rechnet vor, dass sie mit jährlich 266.500 € Mehrkosten plant. 120.000 € soll die Stadt als Zuschuss zahlen, der Rest wird über eine Gebührenerhöhung für die Musikschüler:innen von im Schnitt 20 % finanziert. Die gute Nachricht für die aktuellen Sankt Augustiner Honorarkräfte: Die Stadt möchte die neu geschaffenen Stellen „möglichst […] aus den Reihen der Honorarkräfte“ besetzen. Das bedeutet allerdings nicht, dass nun alle Honorarkräfte automatisch fest übernommen werden. Durch die Einführung des Honorarvertrags ist es üblich geworden, dass einzelne Lehrkräfte nur wenige Wochenstunden unterrichten. Wie die Stadt Sankt Augustin mit diesen Lehrkräften verfahren wird, bleibt abzuwarten.
Leipzig will alle Honorarverträge in Festanstellungen umwandeln
Vor diesem Problem steht auch die Städtische Musikschule „Johann Sebastian Bach“ in Leipzig. Dort gibt es 162 Honorarkräfte, die nun – ebenfalls als Reaktion auf das Urteil des BSG – bis Februar 2024 fest angestellt werden sollen. Dieser Plan stößt allerdings beim Berufsverband für Musik in Sachsen und der Honorarlehrervertretung der Musikschule auf Kritik. Im Interview mit dem Leipziger Magazin kreuzer (Ausgabe 10/23, „Alter Wein in neuen Schläuchen“ von Claudia Helmert) sagen sie: „Die Honorarlehrkräfte jetzt in eine Mikro-Anstellung mit Sozialversicherungspflicht zu überführen, ohne Aufstockung der Stunden-Kontingente der Betroffenen, ändert weder an ihrer sozialen noch an der finanziellen Unsicherheit etwas. […] Wir sind für sozialversicherungspflichtige Arbeitsverträge und faire Vergütung. Wir wünschen uns schon lange eine Veränderung, aber nicht auf diese Art und Weise.“
Diese Kritik kann die Stadt Leipzig nicht nachvollziehen. Ebenfalls im kreuzer entgegnet sie: „Mit dem Betriebsausschuss Kulturstätten wurde über dieses Vorgehen Einvernehmen hergestellt.“ Und: „Mit der sog. ›Honorarlehrkräftevertretung‹ sahen wir keine Veranlassung in Gespräche einzutreten.“ Keine einfache Situation also für die Beteiligten. Es bleibt abzuwarten, ob noch eine Lösung gefunden wird, mit der alle gut leben können.
Kein Honorarvertrag mehr – auch nicht auf Wunsch der Lehrkräfte
Eine Idee zur Lösung des Dilemmas: Lehrkräfte könnten weiterhin auf Honorarbasis arbeiten, wenn sie das möchten. Doch diesen Spielraum lässt das Gerichtsurteil des BSG eigentlich nicht: Wenn die unternehmerische Freiheit praktisch nicht herzustellen wäre, liefen Musikschulen weiterhin Gefahr, dass bei einer Betriebsprüfung die Scheinselbstständigkeit der Honorarkräfte festgestellt würde und sie Sozialabgaben nachzahlen müssten. Ob Musikschulen dieses Risiko eingehen wollen, wird jede einzelne für sich entscheiden müssen. Eine südwestdeutsche Musikschullehrkraft erhielt kürzlich die Auskunft, dass sich die geplante Umwandlung bei einer so geringen Stundenanzahl nicht lohne und man im Falle der Umsetzung auf eine Übernahme verzichten müsse.
Auch manche privaten Musikschulen würden gerne beim Honorarvertrag bleiben. Ein ehemaliger Musikschulleiter, der anonym bleiben möchte, sagt, dass er das Gerichtsurteil zwar ausdrücklich begrüße, aber: „Für uns ist es leider einfach schlicht unmöglich, [die Festanstellung] umzusetzen. Wir hätten es sehr gerne gemacht, nicht wegen des Urteils, sondern für unsere Lehrer:innen.“ Kommunale Träger wie Leipzig oder Sankt Augustin können notfalls den Zuschuss erhöhen – eine private Musikschule muss sich in höherem Maße über die Gebühren tragen. „Mit dem BSG-Urteil müssten wir jetzt nochmals die Gebühren um 30 % erhöhen – und da ist der höhere Bürokratieaufwand noch nicht drin enthalten. Das werden die Musikschüler:innen nicht zahlen [können].“.
Welche Möglichkeiten und Modelle bezüglich sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse hier ausschöpfbar und gegebenenfalls neu zu denken sind muss ebenso ausgelotet werden, wie finanzielle Unterstützung über mögliche Gebührenerhöhungen hinaus, unter anderem beispielsweise seitens der Länder.
Handlungsauftrag für die Politik
Ein weiteres Problem: Momentan stehen die Zeichen in der Kulturpolitik beinahe überall auf Kürzungen. In NRW etwa wurde 2023 der Kulturetat um 7,5 Mio. € gekürzt – obwohl im Koalitionsvertrag von CDU und Grünen eine Erhöhung um 50 % vorgesehen war. Der Bundesvorsitzende der Fachgruppe Musik der Gewerkschaft ver.di, Martin Ehrhardt, lobt daher das Engagement der Lehrkräfte, richtet aber auch einen Appell an die Politik: „Ich begrüße die Entscheidungen, Musikschullehrkräfte in den TVöD zu überführen. Normale Angestelltenverhältnisse bieten neben einer größeren Sicherheit auch eine bessere gewerkschaftliche Vertretung – ein wichtiges Element für faire Bezahlung und Wertschätzung! Es ist mir besonders wichtig zu betonen, dass nicht nur das BSG-Urteil, sondern vor allem der unermüdliche Einsatz der Lehrkräfte an vielen Musikschulen, die schon über Jahre auf die Missstände der Honorarbeschäftigung aufmerksam gemacht hatten, zu dieser positiven Entscheidung geführt hat. Dadurch werden sich die Arbeitsbedingungen für viele Lehrkräfte verändern – die Musikschullandschaft insgesamt wird sich auf große Veränderungen einlassen müssen. Das bedeutet aber auch, dass nun die Politik handeln und für die ausreichende Finanzierung sorgen muss!“.
Umbruch in der Musikschullandschaft wird kommen
Ein „Weiter wie bisher“ wird es in der Thematik also nicht geben können – dafür ist das BSG-Urteil zu eindeutig. Es ist nun die Aufgabe der Gewerkschaften, Verbände und der Politik, Lösungen zu finden. Zu hoffen bleibt, dass der Umbruch in der Musikschullandschaft nicht zu Lasten der Musiker:innen gehen wird.
Über die Autor:innen
Laura Oetzel und Daniel Mattelé sind Musiker:innen und Aktivist:innen aus Köln. Laura Oetzel ist fest angestellt im TVöD an der Musikschule der Stadt Sankt Augustin. Sie ist stellvertretende Vorsitzende der Landesfachgruppe Musik von ver.di NRW; außerdem ist sie Mitglied im Deutschen Tonkünstlerverband und beim PRO MUSIK Verband. Daniel Mattelé arbeitet als freier Orchestermusiker und Kammermusiker. Er ist Mitglied bei unisono und beim PRO MUSIK Verband. Beide sind studierte Harfenist:innen. Auf ihrem Blog dasharfenduo.de engagieren sie sich unter anderem gegen Machtmissbrauch und sexualisierte Gewalt in der Musikszene und setzen sich für bessere Arbeitsbedingungen für Musiker:innen ein. Bis Ende 2023 haben sie die Redaktion des PRO MUSIK Magazins geleitet.
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