Komponisten des zwanzigsten Jahrhunderts leben weltenfern in Elfenbeintürmen und sind nur Eingeweihten ein Begriff? Was für ein Vorurteil! Der französische Komponist Olivier Messiaen (1908–1992) hat es zu breiterer Popularität geschafft.
Bildungsbürgers Nachwuchs kennt Olivier Messiaen zumindest dem Namen nach. Wer in einem halbwegs musisch veranlagten Elternhaus aufwächst, wo hin und wieder der Besuch von Orgelkonzerten zum guten Ton gehört, wird seinen klingenden Namen beizeiten gehört haben. Kompositionen für die „Instrumentenkönigin“, die er selbst perfekt beherrschte, haben es längst ins gängige Repertoire geschafft (es sei denn, notorisch barockfixierte Kantoren halten Max Reger für die Inkarnation der Moderne, bei denen hätte ein Messiaen keine Chance). Kammerensembles, die auch diesseits der Wiener Klassik Tonalität und Rhythmen pflegen, mögen denn auch vom „Quatour pour la fin du temps“ (Quartett auf das Ende der Zeit) gehört haben, wenn sie es nicht gar selbst zu interpretieren versuchen. Schon aufgrund der Entstehungsgeschichte im Kriegsgefangenenlager
Görlitz und der 1941 dort erfolgten Uraufführung gilt dieser kammermusikalische Meilenstein als herausragend in Biografie und Œuvre seines Schöpfers und ist nicht zuletzt wegen der Besetzung Klavier, Violine, Klarinette, Violoncello auch gattungsspezifisch gewagt. Der internierte Franzose, der selbst den Part am Piano übernahm, fand nach der Gefangennahme schlicht und einfach genau diese Instrumentalisten für sein Werk. Darin finden sich erstmals exakt nachgezeichnete Vogelstimmen – hier: der Amsel –, was später zu einer weiteren Extravaganz des Ausnahmekünstlers werden sollte. Tiermotivik (Messiaen soll hunderte Vogelstimmen studiert und gekannt haben) zieht sich durch das weitere Schaffen und gipfelt in exzeptionellen Klavier- und Orgelwerken ebenso wie in seiner einzigen Oper „Saint François d’Assise“.
Die wiederum, eine achtteilige Szenenfolge zum Leben und Wirken des Franz von Assisi, ist Ausdruck der starken Religiosität Messiaens, wodurch er, siehe oben, vielleicht doch bei dem einen oder anderen Kirchenmusikus ein Stein im Brett haben dürfte.
Wer dem am 10. Dezember 1908 in Avignon geborenen Musiker bei all diesen Bezügen dennoch nie begegnet ist und auch nicht der tonstarken Sinfonik seiner 1949 fertiggestellten und in Boston uraufgeführten „Turangalîla-Sinfonie“ erlegen ist, hat vielleicht auf dem Umweg der Synästhesie von Messiaen gehört. Die Kontraste aus Form, Fläche und Farbe verdichteten sich bei ihm durchaus wechselseitig zu Rhythmus, Tonsatz und Klang.
Elektroniker fänden ebenfalls ihre Reibungsfläche zu Olivier Messiaen wie die Enthusiasten des Tonbands, Musiktheoretiker und Improvisateure; selbst Instrumentenkundler und Mathematiker kämen auf ihre Kosten, hatte der Meister doch wie kein zweiter die Ondes Martenot verwendet, schuf er spezielle Modi und Formeln für „nicht umkehrbare Rhythmen“. Seine Kompositionstechnik hat er bereits als 36-Jähriger in einer Abhandlung beschrieben, die späterhin zwar Verfeinerung erfuhr, aber stets Grundlage für typisch erkennbaren Messiaen-Klang blieb. Wer aber nun war dieser musikalische Magier?
Man ahnt es: Dieser Mann war ein Besessener. Offenbarungen durchzogen sein Leben. Die dichtende Mutter öffnete ihm den Sinn für Poesie – er dankte es ihr mit juvenilen Orgeleskapaden um eine Auswahl ihrer Gedichte. Das vom Theater geprägte Elternhaus gab dem heranwachsenden Knaben die Sicht auf Rollenspiel und Kostümierung frei, was zeitlebens in engen Bezügen zu theatralen Vorgängen in der Musik sowie insbesondere Messiaens bekennende Liebe zu Musikmalerei fruchtete. Da die katholische Kirche, wie wohl alles Okkulte, seit je Theater pur ist – Komödie nur unfreiwillig, Tragödie hingegen beständig –, verwundert es kaum, wie sehr Glaubensbekenntnisse Olivier Messiaens vom Leben nicht zu trennendes Schaffen überlagerten und durchzogen.
Der Jubilar, dem das Musikjahr 2008 bereits eine respektable Reihe von Aufwartungen erwies, verkörperte Zeit seines Lebens eine Bescheidenheit, die zumeist Großes gebiert. Verfeinertes Orgelspiel und hier insbesondere die Kunst des Improvisierens erlernte er bei Marcel Dupré, Komposition detailliert bei Paul Dukas; insgesamt nahm er sich elf Jahre Lehrzeit am Conservatoire de Paris, wo er ab 1947 freilich für mehr als 30 Jahre dann auch unterrichtete. Sechs Jahrzehnte lang war er Organist an der Kirche Sainte-Trinité in Paris (ab 1931) – in seiner von großen Gemeindeteilen unverstandenen Modernität dem einstigen Thomaskantor Johann Sebastian Bach durchaus verwandt. Dabei verflocht Messiaen stets Spirituelles mit Seriellem und bekundete seine musikalische Sprachweise gern auch mit theoretischen Abfindungen.
Was er tat, was er war, was er wollte, schien durchgeistigt zu sein. Kein Wunder, dass auch die namhaftesten seiner Schüler – Pierre Boulez etwa, Karlheinz Stockhausen und Iannis Xenakis – in durchaus unterschiedlicher Form ein tönendes Abgehobensein verkörperten, das von jenseitigen Huldigungen durchzogen ist, den künstlerischen Inspirator dabei sehr diesseitig erkannten. Serielle Musikströmungen gehen auf Überlegungen dieses Altmeisters zurück, der offenen Geistern noch heute ein Anreger ist. Allein die von ihm konstruierten „Spezialakkorde“ sind nachhaltig Diskussionsstoff bei Interpreten und Innovatoren.
Spirituelle Energie sowie insbesondere Erfahrungen des Krieges dürften Messiaen aber auch „geerdet“ haben, wenngleich er zeitlebens Außenseiter blieb, der übrigens auch die Texte zu seinen Werken selbst schrieb. Nach einer tragisch geendeten Verbindung mit der komponierenden Geigerin Claire Delbos – sie litt viele Jahre lang an einer Nervenkrankheit und starb nach mehr als 25 Jahren Ehe – ging Messiaen 52-jährig mit seiner einstigen Schülerin, der Pianistin Yvonne Loriod, eine neue Ehe ein. Sie überlebte den 1992 in Paris verstorbenen Olivier Eugène Prosper Charles Messiaen, war nicht nur Muse, sondern auch Sachwalterin seines Schaffens. Ob „Turangalîla-Sinfonie“ oder „Saint François“ – nicht selten saß sie an den Ondes Martenot und überwachte die Aufführungen auch nach seinem Tod. Breitem Publikum unvergessen ist etwa die Salzburger Festspielproduktion von Peter Sellars unter Leitung von Esa-Pekka Salonen. Zum Jubiläum steht in Paris allerdings nur ein konzertanter „Saint François“ auf dem Plan.